Menschliches, Allzumenschliches in der Kaserne

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Menschliches, Allzumenschliches in der Kaserne

Die Alpinistraße in Meran ruft noch immer Erinnerungen in mir hervor. Galt der erste Teil des persönlichen Rückblicks auf die Militärzeit den ersten Wochen in der neuen Umgebung, so sollen dieses Mal die Menschen im Mittelpunkt stehen.
Der Zusammenhalt unter den Soldaten in der Kaserne war meist gut. Man befand sich gemeinsam in einer Ausnahmesituation, die für niemanden besonders angenehm war. Sofern man das gleiche Dienstalter hatte oder aus der gleichen Provinz stammte, gab es in der Regel auch keinen Grund, Konflikte zu provozieren. Natürlich gab es auch diejenigen, für die der Militärdienst eine willkommene Abwechslung war. Ich erinnere mich an einen Soldaten, der sich nie beklagte, wenn er zum Wachdienst eingeteilt wurde, denn – so erklärte er – das sei im­mer noch spannender als sein Leben zuhause. Er arbeitete in einer Fabrik im Piemont und stand acht Stunden am Tag am Fließband. Die Südtiroler als Gruppe fielen dadurch auf, dass sie untereinander deutsch sprachen, was in der Regel nicht gerne gehört wurde. Auch die Ita­lie­nischkenntnisse waren oft deutlich ausbaufähig. Bei einer Theoriestunde im Freien mussten Passagen aus dem Militärhandbuch vorgelesen werden. Zunächst stell­te man sich mit seinem Namen und der Bezeichnung seiner Einheit vor. Wenn schon bei der Aussprache von „recluta alpina“ klar wurde, dass es sich um einen Südtiroler handelte, wurde der Rekrut meist von der Aufforderung zum Vorlesen „befreit“. Interessant war auch zu beobachten, wie sich unsere Leute bestimmte Ausdrücke sprachlich angeeignet hatten. Aus „montare“ und „smontare di guardia“, also den Wachdienst beginnen bzw. beenden, wurde „aufmontieren“ und „åbmontieren“. Heikel wurde es, wenn sich jemand etwas zuschulden kommen ließ. Gröbere Vergehen wie Trunkenheit, Drogenkonsum oder Diebstahl führten zu einem „processino“ im Büro des Colonello. Beim Betreten des Raumes musste man zuerst die Kriegsflagge grüßen und dann den Oberst, der als rang­höchs­ter Offizier dem Regiment vorstand. Insgesamt war ich an fünf solcher Prozesse beteiligt, zweimal als Mitglied der beratenden Kommission, dreimal als Verteidiger des Angeklagten. Das Strafmaß schwank­te meist zwischen sieben und zehn Tagen Aufenthalt in der „Gefängniszelle“, einem abseits gelegenen Einzelzimmer. Als einer der Soldaten ein Mädchen in die Kaserne geschmuggelt hatte, konnte trotz eines Bündels von Protokollen nie geklärt werden, wie dies möglich war.

Originale gab es überall – mit und ohne Rang. Da war der Marescial­lo, der seine „Freundinnen“ in der ganzen Stadt verstreut hatte, was die Autofahrten mit ihm immer in die Länge zog. Oder ein anderer Unteroffizier, der unbedingt die Matura nachholen wollte und sich dafür von Soldaten Nachhilfe geben ließ. So kam ich in den Genuss, ihn in verschiedenen Fächern zu unterrichten – sogar in Italienisch, da er Sizilianer war. Ein Soldat, der in der Telefonzentrale gearbeitet hatte und in den ersten Wochen alles andere als vorbildlich war, entwickelte sich zu einem überaus hilfsbereiten und pflichtbewussten Kameraden. Anscheinend brauchte er nur etwas Struktur in seinem Leben. Auch einige Zimmernachbarn sind mir in Erinnerung geblieben. Einer wollte die Zeit nutzen, um 10 kg abzunehmen. Als ich ihn nach einigen Monaten fragte, ob er sein Ziel schon erreicht habe, antwortete er etwas geknickt, er ha­be sogar 18 kg zugenommen. Besonders gesund war das Leben in der Kaserne nicht.

So konnte man es nicht erwarten, dass endlich das langersehnte „è finita“ ertönt. Bis dahin gab es eine Reihe von Ritualen. Für jeden Monat wurde ein Knopf in den Schlüsselanhänger geknotet, für 50 Tage der Lack einer der sechs Nieten der Mütze abgekratzt. Und mit 150 Tagen wurden die Schuhbänder gerade statt gekreuzt eingefädelt, um nur einige der selbstgewährten Privilegien zu nennen. Dadurch verging die Zeit subjektiv schneller.

In der letzten Woche war es üblich, sich gegenseitig auf bunten Tüchern Grüße und Wünsche zu hinterlassen. Eine Lebensschule, so schrieb ein Freund, sei es nicht gewesen, denn dies hätte mit dem Leben nichts zu tun gehabt. Das stimmt so nicht. Die meisten Menschen in der Kaserne waren anständig, freundlich und haben so gut es geht ihre Arbeit erledigt. Dass sich die Welt auch ohne all das in gleicher Weise gedreht hätte, liegt in der Natur der Sache. Immerhin hat man gelernt, sich in herausfordernden, vielleicht auch absurden Situationen gemeinsam durchzukämpfen. Christian Zelger