Von Flugzeugen, Schmetterlingen und Gedichten

Visionen für Meran
14. Oktober 2021
934 Minuten unbezwungen
14. Oktober 2021
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Von Flugzeugen, Schmetterlingen und Gedichten

In Spanien ist es Tradition, Kindern die Familiennamen beider Elternteile zu geben, auch wenn im täglichen Leben meist nur einer davon benutzt wird. Jeder kennt den Maler Pablo Ruiz y Picasso, Sänger Julio Iglesias de la Cueva und Schauspielerin Penélope Cruz Sánchez – aber wahrscheinlich nicht unter diesen vollständigen Namen. Man muss aber nicht in die Ferne schweifen, um auf einen spanischen Namen zu stoßen, es reicht ein Blick in eine bekannte Meraner Buchhandlung. Dort kümmert sich Vanessa Gómez-Salas Steinhäusl um das Lesewohl ihrer Kunden. Die studierte Über­set­zerin und Dolmetscherin ist selbst eine begeisterte Leserin und schätzt vor allem Familiengeschichten. Zu ihren aktuellen Favoriten gehört „Das Land der Anderen“ von Leïla Slimani, ein Buch, das in Marokko spielt, einem Land, das die angrenzende Westsahara bis heute beansprucht. Und die Westsahara ist mit Vanessas Familiengeschichte und Vornamen verbunden.
Ihr Vater Enrique war in den 60er- und 70er-Jahren Pilot der spanischen Luftwaffe. Er flog oft über die Westsahara, die damals von den Spaniern unter Diktator Francisco Franco besetzt war. Die auf den Kanarischen Inseln statio­nier­ten Piloten genossen wesentlich mehr Freiheiten als ihre Kollegen auf dem Festland. Einige der jungen Burschen waren aber übermütig und verloren ihr Leben, weil sie die Damen ihres Herzens mit ihren Flugkunststücken beeindrucken wollten. Enrique blieb davon verschont. Doch eines Tages, bei einem Routineflug über der Wüste, verlor er die Kontrolle über sein Flug­zeug und stürzte ab. Wie durch ein Wunder blieb er unversehrt, befand sich aber mitten in einer unwirtlichen Dünenlandschaft und ohne Kontakt zur Außenwelt. Nach zwei Tagen und Nächten wurde er schließlich von seinem guten Freund Mario gefunden und gerettet. Dieses Erlebnis schweißte die jungen Piloten noch enger zusammen und so beschlossen sie als Zeichen ihrer freundschaftlichen Verbindung, ihren erstgeborenen Töchtern den gleichen Vornamen zu geben. Auf den Namen Vanessa kam En­ri­ques Frau, nachdem sie den Film „Isadora“ mit Vanessa Redgrave als avant­gardistische und außergewöhnliche Tänzerin in der Haupt­rolle gesehen hatte. Die groß­artige Schauspielerin mit dem damals noch ungewöhnlichen Vornamen faszinierte sie. Als sie noch erfuhr, dass eine Gattung besonders schöner Schmetterlinge ebenfalls den Namen Vanessa trägt, stand für sie fest: Ihre Tochter sollte auch so heißen. Der Vorname ist übrigens eine Erfindung des irischen Schrift­stellers Jonathan Swift. Als er 1713 ein Gedicht über sich und seine heimliche Geliebte Esther Vanhomrigh schrieb, nannte er sie verschlüsselt Vanessa, indem er Van, die erste Silbe ihres Familien­namens, mit ihrem Kosenamen Essa kombinierte.

Haben auch Sie eine interessante Geschichte zu erzählen, wie Sie zu ihrem Vornamen gekommen sind? Dann schreiben Sie uns eine E-Mail an: post@diebaz.com
Christian Zelger