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Junge Menschen

„Umzingelt, angespuckt und beleidigt! Jugendbande terrorisiert Badegäste! Es reicht mit der migrationsgetriebenen Gewalt! Opfer und besorgte Eltern nicht allein lassen! Sicherheitsproblem im Supermarkt!“ Körperverletzung, Bedrohung, Diebstahl: Gewalttätige Jugendliche schaffen es immer wieder in die Schlagzeilen.
von Josef Prantl

Merans Bürgermeister Dario Dal Medico spricht sogar von einer Notsituation und fordert mehr Polizeipräsenz in der Stadt. Das Algunder Einkaufszentrum ALGO soll ein Hotspot sein; so wie die Meraner Carducci­straße oder die Garibaldistraße. Die Kriminalitätsrate scheint in der Stadt zu steigen, die Unsicherheit in der Bevölkerung wächst. „Hotspot Carduccistraße: Man kann alles kaufen, was illegal ist!“, lautete kürzlich eine Schlagzeile. Bedrohlich wirkende Jugendbanden tragen dazu bei, dass der Wunsch unter der Bevölkerung wächst, die Straßen mögen sicherer werden. Aber entspricht dieses Gefühl der Bedrohung der Realität? Oder reagieren wir auf das Thema zu panisch? Die Studienlage spricht eine klare Sprache: Seit Mitte der 1990er Jahre ist die Kriminalität in den meisten westlichen Ländern rückläufig. Diese langfristige, positive Entwicklung der Gewalttaten scheint – zumindest vorläufig – aber zu Ende zu sein. Seit etwa fünf, sechs Jahren gibt es in zahlreichen Ländern, etwa in Deutschland, Schweden, Großbritannien und den USA, Hinweise darauf, dass die Zeit sinkender Gewaltneigung vorbei ist. Die Ge­walt­kurven steigen in diesen Ländern wieder. Ein aktuelles Problem ist in diesem Zusammenhang die Zunahme verschiedener Formen von Verschwörungstheorien, die oft mit einer Radikalisierung von Menschen einhergeht. Die Häufung von regionalen und globalen Krisen in den vergangenen Jahren trägt zudem zur Instabilität bei.

Gefühl der Unsicherheit
In Meran gab es in letzter Zeit mehrere Vorfälle, die das Sicherheitsgefühl der Menschen schwinden lassen. So machen etwa Jugendbanden die Stadt unsicher und es kommt im­mer wieder zu Gewalttaten, Diebstählen und Sachbeschädigungen. Die Brutalisierung der Jugendszene scheint gerade in Meran real zu sein. Erschreckend ist vor allem die Motiv­losigkeit. Einige dieser jungen Menschen brauchen keinen Grund, um zuzuschlagen. Sicherheit ist das beherrschende Thema in der öffentlichen Diskussion. Ein nicht geringer Teil der Gewalttaten wird von Jugendlichen ausländischer Herkunft begangen. Dass die meisten von ihnen unter schwierigen Verhältnissen aufwachsen, ist bekannt. Grenzen kennen viele nicht, werden ihnen auch nicht gesetzt, und wenn Kinder und Jugendliche keinen Rahmen erhalten, suchen sie die Grenzen anderweitig, auch das ist längst bekannt. Junge Menschen brauchen aber Zugehörigkeit und Anerkennung. Jugendbanden erfüllen dies schnell, ohne anstrengenden Umweg über sportliche Erfolge zum Beispiel. Wie man in kurzer Zeit mit Gangs Respekt von anderen erfahren kann, machen Rapper- oder Tik-Tok-Videos in den sozialen Medien vor.

Woher kommt die Gewaltbereitschaft?
Grundsätzlich lassen sich laut Sozialwissenschaften drei Motive unterscheiden, die Jugendliche gewalttätig werden lassen. Junge Menschen, die das Gefühl haben, den Umständen eher ausgeliefert zu sein, als sie zu beherrschen, suchen in der Gewalt oft eine Bestätigung und glauben so Macht, Anerkennung, Kontrolle zu erlangen. Auch auf das Gefühl von Ungerechtigkeit, Ausgrenzung oder Diskriminierung reagieren Jugendliche sehr schnell mit Gegenwehr. Das dritte Motiv ist in der Gruppendynamik zu finden. Gruppen, zu denen sie sich hingezogen fühlen, üben auf junge Menschen, deren Identität noch nicht gefestigt ist, einen großen Sog aus. Frust, Stress, Langeweile, aber auch anstachelnde Gewaltdarstellungen in Medien können die Gewaltbereitschaft zudem fördern. Aber auch biografische Faktoren spielen eine Rolle: eine belastete Kindheit, eigene Gewalterfahrungen oder eine psychische Störung. Das alles ist bekannt.

Brauchen wir strengere Gesetze?
Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, dass kein Mensch mit krimineller Genetik zur Welt kommt, sondern aus Gründen der eigenen Sozialisation zu dem wird, was er wird. Ein straffälliger Jugendlicher ist das Endprodukt einer jahrelangen Fehlentwicklung, die es zu
erkennen und zu korrigieren gilt. Kinder brauchen Strukturen und tragfähige Beziehungen, um sich zu entwickeln, darauf weisen Psychologen und Jugendarbeiter immer wieder hin. Weniger erprobt ist, wie wir als Gesellschaft mit dieser Gewaltbereitschaft bei jungen Menschen umgehen. Es brauche Gesetzesverschärfungen, lautet die Forderung von vielen Seiten. Unter Experten hat sich die Gewaltprävention aber als besserer Weg durch­gesetzt als Restriktion, Strafen und Repression. Trotzdem: schärfere Gesetze, Strafen und Abschreckung werden vielleicht das Unsicherheitsgefühl der Bevölkerung zurückdrängen. Die wachsende Zahl von Kameras, die Straßen überwachen, bewirkt aber nicht, dass Kriminalität verhindert wird. Sie verlagert sich nur an andere Orte. Aber die Menschen fühlen sich sicherer. Auch mehr Polizisten tragen nicht unbedingt dazu bei, dass mehr Kriminalität verhindert wird, aber dazu, dass sich die Menschen besser fühlen.

Prävention und nicht Razzia
Gewaltprävention hingegen ist ein langwieriges und für die Gesellschaft auf den ersten Blick unsichtbares Handeln. Sie zielt auf Stärkung der Persönlichkeit, auf Ausbildung von sozialer Wahrnehmung, kontrolliertem Handeln, Konfliktfähigkeit, gewaltfreier Kommunikation und schließlich auf Vermeidung von Straftaten. „Es ist einfach, Aktionen gegen diejenigen zu setzen, die schon an den Rand gedrängt sind“, schreibt FF-Redakteur Georg Mair. Und weiter: „Kriminalität muss natürlich bekämpft werden. Mit kühlem Kopf, mithilfe der Polizei, der Jugendzentren, von Sozialämtern.“ Ändern ließe sich freilich etwas mit Sozialarbeit, Bildung und Arbeit. Mit Angeboten, die Menschen von der Straße oder aus dem Eck zu holen. Den Leuten eine Perspektive zu geben, anstatt auf sie zu zeigen, wäre wahre Sicherheitspolitik, meint Georg Mair. Die meisten Experten werden ihm da Recht geben!

„Es braucht auch mal Konsequenzen“

Im Rathaus ist man sich der Brisanz der Thematik bewusst. „Und die Politik wird und muss handeln“, sagt Stefan Frötscher. Es brauche Konsequenzen für Jugendliche, die straffällig werden, und die Familien seien in die Pflicht zu nehmen, betont der Sozialstadtrat. Zugleich muss der Integration von Familien mit Migrationshintergrund und in schwierigen Verhältnissen viel mehr Beachtung geschenkt werden.

Die BAZ sprach mit Stefan Frötscher über das Thema der Jugendgewalt in der Stadt.

Stadtrat Stefan Frötscher

Stimmt es, dass Meran unsicherer geworden ist?
Stefan Frötscher: Tatsache ist, dass wir in den Medien immer öfter darüber lesen. Vor allem junge Menschen mit Migrationshintergrund schaffen es in die Schlagzeilen. Grundsätzlich aber würde ich nicht behaupten, dass die Kriminalität zugenommen hat. Was mich aber erschreckt, ist die brachiale Gewalt, die schon Kinder anwenden. Schlägereien hat es immer gegeben, aber dass auf jemanden, der am Boden liegt, noch brutal dreingeschlagen wird, ist neu und erschütternd. Die Form der Gewalt hat sich seit einigen Jahren tatsächlich verändert. Seit Corona ist es noch brutaler geworden. Das Phänomen der Jugendbanden ist seitdem viel stärker zugegen. Allerdings finde ich auch, dass die „gefühlte“ Kriminalität mit der Realität nur begrenzt übereinstimmt. Das hängt wohl auch mit der ausführlichen Berichterstattung von gewalttätigen Jugendlichen in den Medien, besonders in den sozialen Medien, zusammen.

Wie erklären Sie sich, dass die Hemmschwelle jugendlicher Gewalt sinkt?
Ich bin kein Psychologe, aber wenn junge Men­schen im Internet alles Mögliche zu sehen bekommen, dazu kommen Alkohol und Gruppenzwang, dann kennen einige leider keine Grenze mehr. Dieser neue Typus von jugendlicher Gewalt begründet sich zugleich auf eigenen Rechts- und Unrechtsvorstellungen, was bedeutet, dass unsere Rechtsordnung für diese Jugendlichen bedeutungslos geworden ist. Sie respektieren weder die Polizei, geschweige denn Erwachsene, Lehrpersonen, Eltern.

Den Ordnungskräften sind bei jugendlichen Straftätern aber die Hände gebunden.
Genau, das ist ja eines der Probleme, welches die Politik zu lösen hat. Es kann nicht sein, dass straffällige Jugendliche keine Konsequenzen zu befürchten haben. Es ist schon auffallend, wie gut diese Jugendlichen über ihre Rechte informiert sind und mit welchem forschen Auftreten sie der Polizei begegnen. Strafen müssen ja nicht gleich Freiheitsentzug bedeuten. Es gibt viele andere Formen von Wiedergutmachung, wie Sozialdienste in Pflegeheimen, bei Menschen mit Beeinträchtigung, in sanitären Einrichtungen usw. Nur wenn Straftaten auch zu Konsequenzen führen, erreichen wir den Respekt für unsere Rechtsordnung, ohne die ein Zusammenleben nicht möglich ist.

Braucht es mehr Anwesenheit der Ordnungskräfte?
Auf alle Fälle! Die Polizei weiß ganz genau, wo die Orte und Plätze sind, die sogenannten Hotspots. Hier braucht es Anwesenheit und nicht in den Lauben. Unsere Stadtpolizei ist von der ausufernden bürokratischen Arbeit zu entlasten und muss wieder Zeit finden, vorrangig für den Schutz der Bürger da zu sein.

Was ist mit den Familien, haben Eltern ihre Kinder nicht mehr im Griff?
Für Jugendliche ist Gewalt häufig ein attraktives Instrument, um ihren Selbstwert zu erhöhen. Die Aufmerksamkeit, die sie dann von Gleichaltrigen erhalten, tut ihr Übriges. Dass sein Handeln aber abgelehnt wird, dass es falsch ist, erfahren diese Jugendlichen weder in der Familie noch in ihrem Umfeld. Konsequenzen gibt es für sie nicht und eine Verantwortung für die Tat, muss nicht übernommen werden. Wenn straffälliges Verhalten aber keine Folgen hat, dann wird es auch nie zu Einsicht, Verhaltensänderung kommen. Nicht alle, aber viele dieser gewalttätigen Kinder und Jugendlichen stammen aus benachteiligten Familien, aus Familien mit Migrationshintergrund. Die Eltern sind meist beide berufstätig und mit der Situation überfordert. Sie setzen ihren Kindern keine Grenzen und schauen lieber weg, als sich auf einen Konflikt einzulassen.

Durch Gewalt das Selbstwertgefühl erhöhen

Hängt es nicht auch mit fehlenden Wertvorstellungen im Elternhaus zusammen?
Teilweise schon. Was Kinder als ihre eigene Wertvorstellung im Lauf ihres Lebens bis zum Erwachsenenalter entwickeln, das speisen sie aus verschiedenen Quellen: Sie erfahren, was die Eltern, ihr Umfeld für wünschenswert hal­ten und was man tun muss, wenn man in eine Gemeinschaft der Menschen eingegliedert ist und bleiben möchte. Da sind die Eltern, die ihrer Erziehungsaufgabe nicht nachkommen, unbedingt in die Pflicht zu nehmen. Auch für sie muss es Konsequenzen geben, etwa bei den Sozialleistungen. Rücksicht, Respekt, Wertschätzung, soziale Verantwortung werden im Elternhaus vermittelt.

Was wird die Politik gegen die Jugendgewalt nun konkret unternehmen?
Schnelle Lösungen wird es nicht geben. Kurzfristig ist dafür zu sorgen, dass das Gefühl vieler Menschen, in der Stadt nicht mehr sicher zu sein, ernst genommen wird. Dazu können die Ordnungskräfte maßgeblich beitragen. Was die Familien und Jugendlichen betrifft, so braucht es gut durchdachte und konkrete Maß­nahmen, die im Netzwerk von Sozialdiensten, Jugendarbeit, Polizei, Schule und Fachkräften auszuarbeiten sind. So sieht es auch unser Ak­tionsplan gegen Gewalt vor, den wir im Gemeindeausschuss beschlossen haben. Lediglich mit Hilfe vor allem strafender Maßnahmen wird das Problem aber nicht nachhaltig eingedämmt werden. Prävention von Straffälligkeit im Kindes- und Jugendalter ist in erster Linie eine pädagogische Aufgabe.

„Wir haben vieles verschlafen“

Die Lananerin Franziska Haas ist Mutter von 3 Kindern im Jugendalter und arbeitet in Meran als Schulsekretärin. Die BAZ sprach mit ihr über das Thema Jugendgewalt.

Sind unsere Straßen heute wirklich unsicherer geworden?
Franziska Haas: Sagen wir es mal so: Ich hatte früher keine Probleme abends von einem Ende der Stadt zum anderen zu gehen. Heu­te empfehle ich meinen Töchtern, sich abends immer nach Hause begleiten zu lassen.

Nur mit Strafen und Gesetzen lässt sich das Problem der Jugendgewalt nicht lösen

Eine Schlägerei nach einem Wiesenfest war früher keine Meldung wert. Kann es nicht auch sein, dass wir Gewalt anders wahr­nehmen, dass wir empfindlicher sind, wenn es um Gewalt geht?
Früher wurde es nicht so schlimm gesehen, wenn sich ein paar Burschen halt mal geprügelt haben. Man kannte sich ja. Heute geschieht das wöchentlich vor den Diskotheken mit wesentlich mehr Alkohol im Spiel und mehr Gewaltbereitschaft und es geht gegen ganz gleich wen. Meistens sind es bereits bekannte Gruppen. Kleinere Schlägereien mit Nasenbeinbruch oder zerschundenem Gesicht werden schon gar nicht mehr gemeldet.

Ein großer Teil der beklagten Ge­walttaten in den Medien wird von jungen Menschen mit Migrationshintergrund begangen. Warum sind es gerade die ausländischen Jugendlichen, die uns so viele Probleme machen?
Immer, wenn sich Menschen mit ähnlichem biografischen Hintergrund in einer fremden Umgebung sind, finden sie zusammen. Sie tauschen Informationen aus, wie etwas funktioniert oder leichter geht und es ist ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl da. Sollten solche Gruppen auf Widerstand oder Probleme treffen, ärgert man sich gemeinsam, schimpft gegen alle anderen und bildet eine Front. Hier ist zu berücksichtigen, dass Gewalttaten von Menschen mit Migrationshintergrund es leichter in die Medien schaffen. Trotzdem ist bei Migrationshintergrund immer stark zu differenzieren, woher jemand kommt und aus welchem Grund.

Glauben Sie, dass härtere und schnellere Strafen Abhilfe schaffen könnten? Oder müssen wir nicht doch andere Methoden entwickeln, um diese Jugendlichen aufzufangen?
Wir haben ein Rechtssystem, das genügen sollte. Es passiert aber nach wie vor, dass Ordnungshüter einschreiten und dann Gerichte oder andere Instanzen eine Strafe verhindern. Vorschriften werden eindeutig zu wenig kontrolliert. Dafür fehlt das Personal. Methoden, um Jugendliche aufzufangen, bevor es zu Ausschreitungen kommt, wären wünschenswerter, gerade zu Beginn einer Einwanderung, oder bei der Eingliederung in unsere Gesellschaft. Allerdings haben wir diese Phase bereits verschlafen.

Müsste man nicht auch die Eltern viel mehr unter Druck setzen, die Sozialdienste früher einschalten?
Wenn für falsches Verhalten der Kinder und Jugendlichen die Eltern so haftbar sind, dass es wehtut, sollte das eigentlich genügen. Für Fälle, wo schon bei den Eltern das Problem liegt, braucht es die Sozial­dienste. Wichtig wäre es, solche Gruppen aufzusplitten.

Die Gewalt-Diskussion im Meraner Raum hat gerade erst begonnen: Wie wünschen Sie sich, dass es jetzt weitergeht?
Diskussionen sollten in der Politik und in der Verwaltung geschehen. In der breiten Bevölkerung führen sie eher zu Unmut und Missstimmung, ganz ungünstige Voraussetzungen für Integration. Für die In­tegration wäre es notwendig, wenn bereits zu Beginn gezeigt wird, dass hier anders gelebt, anders empfunden oder gesehen wird als in den Herkunftsländern. Die Wohn- und Arbeitssituation sollte so verwaltet werden, dass sich nicht in bestimmten Betrieben und bestimmten Wohngebieten sozial schwache Gruppen häufen.