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Mai 1945

„Schwerster Tag meines Lebens, aber notwendig, um wenigstens ein Stück Tiroler Boden vor völliger Verwüstung zu retten“, schreibt der Bozner Unternehmer und SVP-Gründer Erich Amonn am 2. Mai 1945 in sein Tagebuch. Die Deutsche Wehrmacht hatte soeben in Italien bedingungslos kapituliert. Partisanen drohten über das Land herzufallen. Im Mai vor 80 Jahren stand unser Land vor dem Abgrund.
von Josef Prantl

Der Waffenstillstand war um 14 Uhr in Kraft getreten. Auf den Straßen Südtirols strömten tausende deutsche Soldaten unkontrolliert zurück ins Reich. Bruno De Angelis vom Comitato di Liberazione Nazionale Alta Italia (CLNAI) übernahm unter Androhung des Einmarsches von Partisanenverbänden am 3. Mai von der deutschen Führung in Italien die Verwaltung des Landes. Er wollte Südtirol als italienische Provinz den Besatzern übergeben. In Bozen sprach sich bald herum, dass sich sowohl Partisanen als auch amerikanische Streitkräfte von mehreren Seiten der Stadt näherten. Erich Amonns Zeilen fassen prägnant zusammen, wie sich die Stimmung in diesen Tagen darstellte. Die Wehrmacht hatte ihre Befehlsstrukturen weitgehend aufgegeben; die italienischen Behörden waren zerstreut oder auf der Flucht; und das CLN versuchte hektisch, Aufgaben zu übernehmen, bevor völlig unkontrollierbare Partisanenverbände das Sagen bekamen. Es herrschte rundum Chaos: Strom- und Gasversorgung waren teils unterbrochen, die Telefonnetze ausgefallen, Lebensmittel knapp. Lastwagenkolonnen der Wehrmacht rissen noch letzte Vorräte mit in den Rückzug, während amerikanische Aufklärungsflugzeuge und britische Jagdverbände bereits über dem Talkessel kreisten. Geheimdienstberichte warnten, dass sowohl alliierte Truppen als auch antifaschistische Partisaneneinheiten in Kürze ins Land vordringen würden.

Wem gehört Südtirol?
Es ging in diesen ersten Nachkriegstagen weniger um militärische Stärke als um symbolische Gesten: Wer hisst die Flagge? Welche Farbe dominiert auf dem Rathausdach? Bruno De Angelis ließ unmittelbar nach seiner Einsetzung als „Provisorischer Präfekt“ italienische Tricolori aufstellen – ein klares Signal: Südtirol wird Teil des künftigen Italiens bleiben! Doch bereits in den Straßen Bozens tauchten heimlich einige Graffitis mit der österreichischen Flagge auf, während Anhänger der Südtiroler Volkspartei (sie wird am 08. Mai 1945 von 19 Männern gegründet – viele darunter Mitglieder der Widerstandsgruppe „Andreas-Hofer-Bund“) Plakate mit dem „Tirol über alles“-Schriftzug klebten. Die Amerikaner hatten kurz davor nicht nur die Gründung der SVP, sondern auch die Herausgabe der „Dolomiten“ und des „Alto Adige“ genehmigt. In ihrer ersten Ausgabe am 19. Mai 1945 veröffentlichte die „Dolomiten“ das Parteiprogramm der SVP, das vor allem das Selbstbestimmungsrecht für Südtirol zum Ziel setzte.

Amis in Ulten
Ferdinand Marsoner war bei Kriegsende für Wachdienste in St. Walburg eingeteilt und erinnert sich: „Am 10. Mai stand ich mit zwei SOD-Leuten Wache. Auf einmal kamen ein paar amerikanische Jeeps uns entgegen. Einer der SOD-Leute sagte, wir sollten davonlaufen, aber das taten wir nicht, denn wir hatten Angst, dass sie uns dann erschießen würden. Wir legten unsere Waffen hin und stellten uns mit erhobenen Händen auf. Kurz darauf wurde ich von den Amerikanern beauftragt, für Ruhe und Ordnung im Dorf zu sorgen“. (Aus: Ulten im Zweiten Weltkrieg von Walter Pichler und Georg Gamper).
„Wir müssen den Amerikanern beweisen, dass Südtirol keine deutsche Provinz, sondern ein integraler Teil Italiens ist, der von Partisanen befreit wurde,“ hatte sich Präfekt De Angelis auf die Fahnen geschrieben. Gleichzeitig versuchten lokale deutsche Wehrmachtskommandeure die Übergabe hinauszuzögern, um ihre Truppen ungestört Richtung Norden abzuziehen. Die Befehlskette war stark fragmentiert: Mancher Leutnant in Brixen ignorierte Radioansagen aus Berlin und handelte faktisch autonom. Deutsche Fallschirmjäger in der Bozner Industriezone verließen sich auf Befehle, aus der Stadt nicht kampflos abzurücken – ein Grund dafür, dass es am 3. Mai im Lancia-Werk zu einem Massaker kam.

US-Soldat führt einen Gefangenen ab

Alliierte Militärregierung
Am 4. Mai rückten die ersten US-Truppen in Bozen ein. Unter ihnen Offizier William E. McBratney, ein Jurist aus dem Südosten der USA mit Erfahrung in Besatzungsverwaltung in Frankreich. McBratney brachte ein klares Mandat mit: Südtirol bleibe Teil Italiens, die bisherige Politik der Ausweisung der Optanten werde aber nicht weitergeführt, und der Schutz der deutschsprachigen Minderheit müsse in künftige italienische Vereinbarungen explizit aufgenommen werden. Am 10. Maiveröffentlichte McBratney eine Proklamation, die landesweit verteilt wurde: „Die Provinz Bozen steht unter der Verwaltung der Vereinigten Staaten von Amerika bis auf weiteres. Die bestehende zivile Verwaltung bleibt in Amt und Würden, soweit sie geeignet ist, Ruhe und Ordnung zu wahren. Die italienische Regierung bleibt oberster Souverän, doch die Vereinigten Staaten garantieren Schutz der deutschen und ladinischen Minderheiten sowie freie Ausübung ihrer Kultur und Sprache.“

Schatzkammer der Nazis
Eine amerikanische Division stieß am 4. Mai auf ihrem Vormarsch Richtung Brenner in der Festung Franzensfeste auf tausend Goldbarren im Wert von rund 250 Millionen US-Dollar. Dabei handelte es sich um die Goldreserven der Banca d’Italia aus Rom, die die Deutschen dort „in Sicherheit“ gebracht hatten. Unter strenger Bewachung wurden die Barren wenig später an Italien zurücküberstellt. Durch die Weltpresse ging auch die Entdeckung Hunderter Gemälde und Kunstwerke aus Florenz in einem Lagerhaus nahe Meran. In St. Leonhard im Passeier wurden 264 Bilder von Tizian, Rubens, Raffael, Caravaggio und weiteren Meistern von unschätzbarem Wert entdeckt. Sie stammten aus dem Palazzo Pitti und den Uffizien in Florenz, wo sie die Nationalsozialisten 1944 „sichergestellt“ und nach Südtirol gebracht hatten. In Sand in Taufers machte man wenig später einen zweiten Fund: Dort lagen weitere Gemälde, unter anderem von Rembrandt und anderen bedeutenden Künstlern, verborgen.

Staunen über den Fund der „gestohlenen“ Kunstwerke in St. Leonhard

Flüchtende und Flüchtlinge
Südtirol wurde in den Monaten Mai bis August 1945 von einem Flüchtlingsstrom überrannt, den weder die US-Behörden noch das Rote Kreuz wirklich bewältigen konnten: Italienische Zivilisten und Optanten, Italienische Verwaltungspersonal, das vor den aufständischen Partisanen floh, Jüdinnen und Juden, Überlebende aus Osteuropa, die über die „Balkanroute“ und Österreich hier strandeten, bevor sie nach Israel oder in die USA weiterreisen wollten. Heimkehrende Soldaten, ehemalige SS-Angehörige oder Wehrmachtssoldaten. Im April 1945 kamen mehrere Familien der NS-Führer nach Südtirol, darunter die Familie von Reichsleiter Martin Bormann. In Gröden versteckten sich die Frau und die Tochter des Reichsführers-SS Heinrich Himmler. Im Mai 1945 zählte man in Bozen, Meran und Brixen allein rund 90.000 Menschen, die Unterkunft, Nahrung und medizinische Versorgung benötigten. Provisorische Lager entstanden in Schulgebäuden, Kirchen und Barracken. Die Versorgungslage war prekär: Mangelnde Hygiene führte zu Seuchenwarnungen; Wasserknappheit in den Tälern wurde zum täglichen Thema. Obwohl die US-Behörden Zelte aufstellten, Feldküchen errichteten und Sanitätstrupps entsandten, war die logistische Überforderung enorm. Erst im Frühjahr 1946 begannen sich die Lager langsam zu leeren, als viele Flüchtlinge weitertransportiert oder in andere Zonen Italiens und Europas umgesiedelt wurden.

Die Rattenlinie führt durch Meran
„Dann ging die Fahrt nach Meran. Dies war – so wollte es mein neuer Lebenslauf – mein Geburtsort, und hier erhielt ich auch meinen libro desembargo, die Landeerlaubnis für Argentinien. Ich erhielt es von einem, der zu meinem größten Erstaunen nicht eine einzige Lire dafür wollte. Die Einreisegenehmigung in der Tasche, ausgestellt auf den Namen Ricardo Klement, kam ich nach Genua.“ Die Zeilen stammen von Adolf Eichmann, zuständig für die Juden-Deportationen, der 1950 über Südtirol nach Argentinien floh. Unser Land wurde nach Kriegsende zu einem der letzten Rückzugsgebiete für Faschisten und Nationalsozialisten, Kollaborateure und NS-Täter aus ganz Europa. Meran war Drehpunkt bei der Flucht von NS-Verbrechern. Auch Josef Mengele soll über Meran nach Argentinien geflohen sein. Eine Aufsehen erregende Verhaftung gelang den Amerikanern, als sie in der Stadt die japanische und deutsche Botschaft entdeckten. Auch der in Meran aufgespürte ehemalige Vichy-Informations- und Propagandaminister Jean Luchaire kamen in die Schlagzeilen der alliierten Presse. In Wolkenstein in Gröden hielt sich die Frau von Hitlers Stellvertreter Martin Bormann zusammen mit 14 Kindern auf. Nach Meran war auch Baron Gábor Kemény zusammen mit seiner Frau geflüchtet. Kemény war ungarischer Außenminister und Kollaborateur des Naziregimes und zeichnete als solcher für die Verschleppung hunderttausender ungarischer Juden in deutsche Konzentrationslager mitverantwortlich.

Hans Egarter, Leiter des Andreas-Hofer-Bundes

Richtung Autonomie
Auf globaler Bühne überschlugen sich die Ereignisse: Die Potsdamer Konferenz im Juli und August 1945 sollte die Nachkriegsordnung Europas klären. Südtirol kam in den Sitzungen nur indirekt vor. US-Delegierte jedoch betonten: Italien sei „wichtiger Testfall“ für die zukünftige Zusammenarbeit der Westmächte, und eine Rückgabe Südtirols an Österreich könnte das fragile Bündnis mit Rom gefährden. Daher entschieden sich die Alliierten, den Italienern nur „kleinere Grenzberichtigungen“ vorzuschlagen, mit dem Hinweis, eine Entscheidung über Südtirol bleibe bis zum Friedensvertrag offen. Ende 1945 fielen die Entscheidungen: Mit 1. Oktober übernahmen britische Truppen Besatzungsaufgaben in Südtirol. Am 6. und 15. November warnten amerikanische Stellen in Washington vor einer Verlängerung der Militärregierung bis zum Abschluss des Friedensvertrages – womöglich ein weiteres Jahr. Doch im State Department setzte sich die Linie durch, Südtirol im Laufe des Dezembers 1945 an die italienische Verwaltung zurückzugeben, unter gleichzeitiger Betonung der bisherigen Autonomieversprechen. Am 22. September wurden noch Bedingungen formuliert: Schulautonomie, Rückzug der „Folgore“ (radikale Partisanenverbände) und klare Minderheitenschutzregelungen. Als Rom am 21. November einen Gesetzesvorschlag vorlegte, der das Optionsabkommen von 1939 faktisch wiedereinführte, lehnten die Alliierten dies einstimmig ab und drohten 2. v. l.mit Verweigerung jeglicher Unterstützung. So blieb die Besatzungsregierung bestehen, bis die Briten grünes Licht gaben, Südtirol den zivilen Behörden wieder zu überlassen – allerdings mit der Auflage, die Autonomieregelungen nicht anzugreifen. Erst das Gruber–De Gasperi-Abkommen vom 5. September 1946 schuf die rechtliche Grundlage für die Südtiroler Autonomie. Heute, acht Jahrzehnte später, erinnert wenig an diese Nachkriegsmonate. Einen schwierigeren Neubeginn hätte sich Südtirol kaum vorstellen können – und doch erwuchs daraus eine Autonomie (zwar nach jahrzehntelangem Ringen), die vorbildlich ist.

Erste Landesregierung und Landtag 1948, SVP-Gründer Erich Amonn (rechts außen), Sivius Magnago (2. Reihe 2. v. l.)

 

„Flüchtlingen nicht die Tür verschließen!“

Der Lananer Historiker Walter Pichler forscht seit Langem zur Südtiroler Zeitgeschichte. Er arbeitete an der Ausstellung „Option Heimat – Opzioni“ mit und hat zu­sammen mit Leopold Steurer und Martha Verdorfer Erinnerungen an den Südtiroler Widerstand gegen Nationalsozialismus und Krieg im Buch „Verfolgt, verfemt, vergessen“ aufgearbeitet. Pichler ist zudem Mitautor des Schulbuchs für politische Bildung an der deutsch­sprachigen Mittelschule: „Miteinander leben“. Von 1998 bis 2002 war er Chefredakteur und Projektbegleiter der pädagogischen Zeitschrift „forum schule heute“. Kürzlich erschien in Zusammenarbeit mit Georg Gamper „Ulten und der Zweite Weltkrieg“.

Wie erlebten die Menschen in Ulten das Kriegsende vor 80 Jahren?
Walter Pichler: Die Menschen waren froh, dass der Krieg nach sechs langen Jahren endlich vorbei war. Auf persönlicher Ebene sorgten sich viele über den Verbleib ihrer Angehörigen. Viele Kriegsteilnehmer waren noch auf dem oft langen Heimweg, andere in Kriegsgefangenschaft. Die einrückenden Amerikaner sorgten für Ruhe und Ordnung. Auch nach Ulten kamen mehrere Jeeps mit amerikanischen Soldaten. Sie beauftragten in den ersten Nachkriegstagen mehrere Angehörige des Südtiroler Ordnungsdienstes im Tal für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Der Mai 1945 muss ein ganz besonderer Monat gewesen sein. Welches Klima herrschte damals insgesamt im Land?
Es herrschte eine gewisse Ratlosigkeit: Wie wird es mit Südtirol weitergehen? Auch herrschte ein Gerangel um die Macht: Neben den Amerikanern als Besatzungsmacht waren ursprünglich noch deutsche militärische Kommandostellen im Land. Den italienischen Partisanen (CLN) unter Bruno De Angelis gelang es, die „Übergabe“ Südtirols durch den Andreas Hofer Bund zu erreichen. De Angelis ging es darum, die Provinz für Italien zu sichern. Die Amerikaner waren bemüht, ausgleichend auf die Spannungen zwischen Italienern und Südtirolern zu wirken. Am 8. Mai gelang es den deutschsprachigen Südtirolern mit der Gründung der Südtiroler Volkspartei eine politische Vertretung zu organisieren. Hier ist bemerkenswert, dass vorwiegend Dableiber, aber auch einige Optanten beteiligt waren. Der Schulterschluss, die Notwendigkeit über die Gräben zusammen zu arbeiten, zeichnete sich also früh ab. Südtirol war damals auch ein Durchgangsland für sehr viele Flüchtlinge: Juden wollten nach Palästina, deutsche Kriegsverbrecher unter anderem nach Südamerika. Die sogenannte Rattenlinie, die Fluchtroute ehemaliger Naziverbrecher, führte mitten durch Südtirol.

Historiker Walter Pichler

War es rückblickend wirklich unmöglich, das Selbstbestimmungsrecht für die Südtiroler nach Kriegsende durchzusetzen?
Im September und Oktober 1945 forderten zahlreiche Südtiroler und auch Österreicher auf Großkundgebungen die Selbstbestimmung für Südtirol. Diese Forderung wurde von den alliierten Siegermächten auf der Außenministerkonferenz in London abgelehnt. Der Kalte Krieg warf seine Schatten voraus. Italien sollte nicht übermäßig geschwächt werden, damit die Kommunistische Partei Italiens, die stärkste im Westen, nicht davon profitieren konnte. Österreichs Zukunft im westlichen Lager war unsicher. Sollte es vielleicht doch noch ein kommunistischer Satellitenstaat Moskaus werden? Im Vergleich zu anderen deutschsprachigen Minderheiten in der Nachkriegszeit ist es den Südtirolern aber noch gut ergangen. Man denke nur an die Vertreibung der Sudetendeutschen und anderer deutscher Minderheiten aus Osteuropa.

Welche Lehren aus der Ultner Kriegs- und Nachkriegsgeschichte halten Sie für unsere heutige Gesellschaft in Südtirol für besonders relevant?
Gleich nach dem Krieg zirkulierte in Ulten ein Handzettel mit den Worten „An die ehemaligen nazistischen Kriegsverbrecher von Ulten: Was wollt ihr tun, um eure Verbrechen wieder gut zu machen?“ Jene Minderheit, die damals in Opposition zu Hitler, dem Nationalsozialismus, der Umsiedlung, dem Krieg usw. war, verlangte Gerechtigkeit. Es scheint aber nicht so, als habe auf der anderen Seite großes Schuldbewusstsein vorgeherrscht. Das zeigt sich auch in Interviews mit Zeitzeugen. Letztlich neigten auch belastete Nationalsozialisten dazu, ihr Handeln mit den besten Absichten zu rechtfertigen. Was kann man lernen? Die wichtigste Lehre scheint mir zu sein, für Menschen, die heute aufgrund von Krieg oder politischer Verfolgung in Not sind, nicht die Tür zu verschließen. Auch wir Südtiroler waren in der Vergangenheit auf die Unterstützung anderer angewiesen.