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Licht und Schatten

Die Liste derer, denen man nachträglich unangemessenes Gedankengut nachsagt, wird immer länger. Kein einst Hochgepriesener scheint vor später Kritik gefeit zu sein. So auch der Tiroler Schriftsteller und Straßennamengeber Sebastian Rieger.
Millionenfach verkaufte Kinderbuchklassiker von Ottfried Preuß­ler und Astrid Lindgren wurden schon vor Jahren „gesäubert“. Nicht mehr zeitgemäße Bezeichnungen für Menschen aus anderen Ländern – ohne jetzt hier das verpönte N-Wort zu bemühen – wurden entweder gestrichen oder durch akzeptierte Formulierungen ersetzt. US-Präsident Abra­ham Lincoln, den meisten verbunden mit der Abschaffung der Sklaverei, sieht sich der Kritik ausgesetzt, tief verwurzelt in rassistischen Vorurteilen gewesen zu sein. Und selbst der große Philosoph Immanuel Kant muss sich vorhalten lassen, Sätze formuliert zu haben, die rassistisch gedeutet werden können. Wie man mit dem Gedankengut früherer Zeiten umgeht, das nicht mehr heutigen moralischen Standards entspricht, ist eine heikle Angelegenheit. Und was ist mit Werken, die gar nichts Verwerfliches enthalten, wenn der Autor sonst in Un­gnade fällt? Doch darum soll es hier nicht gehen, sondern um den vielgelesenen Tiroler Dichter Sebastian Rieger – der Reimmichl.

Von Sebastian zum Michl
Sebastian Rieger wurde 1867 in St. Veit in Defreggen geboren. Mit dreizehn Jahren kam er nach Bri­xen in das Vinzentinum, wo er erste Geschichten verfasste. 1888 trat er in das Priesterseminar ein und konnte drei Jahre später seine Primiz im Brixner Dom feiern. Seine frühen Texte begannen stets mit „Was der Michl erzählt“.
Und hinter diesem Michl stand der Schuster Michael Rogger, ein Dorf­­original in Sexten, dessen Erzählungen er für seine Texte verwendete. Dieser war davon so geschmeichelt, dass er Rieger den „schönen Reimmichl“ nannte. So entstand das Pseudonym. Als Hilfspriester, Redakteur, Herausgeber, Schriftleiter und Pfarrer tätig, veröffentlichte er einen Kalender, der seit 1924 unter dem Namen „Reimmichls Volkskalender“ ein Bestseller ist. Bis zu seinem Tod publizierte er knapp 70 Erzählbände und Romane, die zum Teil bis heute aufgelegt werden, und schrieb den Text für die heimliche Hymne „Tirol isch lei oans“. Rieger starb 1953 im Alter von 86 Jahren und wurde auf dem Friedhof von Heiligkreuz, seiner letzten Wirkstätte, beerdigt. Zahlreiche Gedenktafeln, Büsten und Namengebungen, zum Beispiel die Reimmichlstraße in Rabland, erinnern noch heute an seine Popularität. Sein vordergründiges Ziel war es, den Wert des Glaubens zu betonen und die Menschen zu einem religiösen Leben zu führen. Aus diesem Grund spielen Tradition und christliches Brauchtum in seinen Werken eine bedeutende Rolle. Die Kehrseite der Medaille sind allerdings seine Intoleranz gegenüber anderen Religionen und seine antisemitischen Äußerungen.

Man lernt dazu
Gerade die Volkstümlichkeit täuscht oft darüber hinweg, dass sich im Schreiben bekannter Persönlichkeiten auch weniger Rühm­liches findet.
Im Falle Reimmichls weiß man schon seit den 1980er Jahren, dass es judenfeindliche Aussagen in seinen Texten gibt. Der Südtiroler Historiker Leopold Steurer hatte 1986 in der Zeitschrift „Sturzflüge“ Riegers Antisemitismus kritisch beleuchtet und gehörte damit zu den ersten, die dieses verdrängte Thema sichtbar gemacht haben. Passagen wie „Lieb ist dieses Vaterland […] höchstens den Juden, die dem armen Staat ungehindert noch den letzten Tropfen Blut abzapfen“ zeichnen ein im Detail anderes Bild des ansonsten so menschenfreundlichen Rieger. Auch war im „Tiroler Volksboten“ öfters von den „liberalen Juden“ zu lesen, die schuld an den wirtschaftlichen Fehlentwicklungen wären. Anfang der 1930er Jahre verebbten dann verbale Angriffe dieser Art. Aber noch 2003 kehrte man diese im Gedenken an seinen 50. Todestag stillschweigend unter den Teppich. Doch man hatte dazugelernt. 2017, zu seinem 150. Geburtstag, verheimlichte selbst seine Heimatgemeinde St. Veit – bei allem Licht – nicht mehr die dunklen Flecken.
Christian Zelger