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Franz Kafka in Meran

Im Hotel Emma (heute Oberschule) wohnte Kafka für kurze Zeit

Am 3. April 1920 steigt Franz Kafka am Bahnhof in Meran aus dem Zug. Der Prager deutscher Muttersprache mit jüdischen Wur­zeln ist schwer krank. Fast 3 Monate verbringt der heute weltberühmte Schriftsteller in der Kurstadt.

Auf den Spuren von Kafka in Meran

Die Lungentuberkulose, an der er lei­det, erinnert an Covid-19-Erkrankte von heute. Fast drei Monate verbringt Kafka einen Kuraufenthalt in der Stadt.
Heute erinnert hier die Wirt­schafts­fach­oberschule „Franz Kaf­ka“ an den mittlerweile weltberühmten Schrift­steller. Die ehemalige Ober­schul­di­rek­torin Veronika Rieder und der ORF-Journalist Patrick Rina haben zum 100-Jahr-Jubiläum im vergangenen Jahr ein Buch herausgegeben, in dem sie den Spuren des Schriftstellers in Meran von 1920 folgen.

Die BAZ sprach mit der Herausgeberin

Warum kam Franz Kafka 1920 gerade nach Meran?

Kafka-Expertin Veronika Rieder

Veronika Rieder: Eigentlich war es ein Zufall. Der Arzt seines Arbeitgebers hatte dringend zu einem Kuraufenthalt geraten. Einige Bekannte hatten Meran vorgeschlagen, aber Kafka wollte in die Nähe Münchens, wo sein Ver­leger wohnte. Er bekam jedoch keine Einreisebewilligung – die Versorgungslage war schlecht, also wollte die Bevölkerung des bairischen Kurortes nicht auch noch Gäste aufnehmen. Daher entschloss sich Kafka kurzfristig, doch nach Meran zu fahren.

Südtirol war gerade zu Italien geschlagen und Prag Hauptstadt des neuen tschechischen Staates geworden. Wie war es für ihn möglich nach Meran zu kommen?
Er brauchte einen tschechischen Pass und benötigte ein Einreisevisum für Italien. Beides bekam er nach seinen eigenen Aussagen verhältnismäßig rasch und einigermaßen unkompliziert. Im Buch sind die Dokumente abgelichtet. Die direkten Zugverbindungen, die vor dem Krieg viele Hauptorte der Donaumonarchie mit Meran verbunden hatten, gab es nicht mehr. Auf der Strecke über Linz, Salzburg und Innsbruck nach Meran musste Kafka daher mehrfach umsteigen. Natürlich musste er auch Währung wechseln, für Meran benötigte er schon Lire. Die waren, wie er in einem Brief schreibt, in Innsbruck ganz leicht zu bekommen.

Wie muss man sich den fast dreimonatigen Aufenthalt des später weltberühmten Schriftstellers vorstellen?

Franz Kafka

Kafka war zur Kur hier, aber er erwähnte weder im Hotel Emma, wo er zuerst wohnte, noch in der Ottoburg seine Tuberkulose, ansonsten hätte er in ein Sanatorium gehen müssen. Aus den Äußerungen in seinen Briefen geht hervor, dass er an psychosomatische Ursachen seiner Erkrankung glaubte und wenig von ärztlicher Behandlung hielt.
Gleichwohl suchte er einen Lungenfacharzt auf, Dr. Josef Kohn, den ärztlichen Leiter der Königswarter-Stiftung, eines Sanatoriums für Lungenkranke. Auch sonst befolgte er einigermaßen die Ratschläge für TBC-Kranke. Mit stundenlangen Sonnenbädern auf den Balkonen, ausreichend Nahrung – Kafka erzählt vom Milch- und Limonadetrinken sowie Liegekuren auf der Loggia der Ottoburg – und mäßiger Bewegung versuchten die Kranken ihren Körper zu stär­ken. Kafka wusste, dass sein Arbeitgeber, also die Versicherungsanstalt, die seine Kur bezahlte und auch seine Familie eine Besserung, wenn nicht eine Gesundung er­warteten. Daher berichtete er von Gewichtszunahmen, dass er sich bemühe ausreichend zu essen und zu schlafen. Bereits in Prag war Kafka regelmäßig geschwommen sowie gerne und viel zu Fuß gegangen.

Wie sah so ein Tag aus?
Auch hier in Meran unternahm er Spaziergänge und einige Wanderungen und flanierte wohl oft durch die Stadt. Außerdem las er viel, insbesondere Zeitungen, sowohl solche, die er sich von Prag nachschicken ließ, als auch hiesige Blätter. Er dürfte ein genauer Beobachter gewesen sein, wenn er auch wenig darüber verlauten ließ. Viele Stunden verbrachte er mit dem Schreiben von Briefen und Postkarten: an seine Freunde, seine Familie, besonders seine Lieblingsschwester Ottla, vor allem jedoch an Frau Milena Jesenskà Pollak.
Was als Geschäftskorrespondenz zwischen Schriftsteller und Übersetzerin begonnen hatte – Milena hatte ihn gebeten, einige seiner Werke ins Tschechische übertragen zu dürfen – mündete rasch in eine tiefe Liebesbeziehung auf Distanz.

In die Literaturgeschichte sind die Briefe eingegangen, die Kafka von Meran aus an seine tschechische Übersetzerin Milena Jesenskà schrieb. Was ist so Be­­sonderes daran?
Kafka ging förmlich in den Briefen auf, „trank“, wie er selbst schrieb, Milenas Briefe, beschäftigte sich nahezu Tag und Nacht damit. Oft verfasste er mehrere am Tag. Wir können uns vorstellen, wie häufig er auf der Post war, um die Schreiben an Milena aufzugeben. Milenas Antworten kön­nen wir nur indirekt aus Kafkas Äußerungen oder knappen späteren Berichten ihrerseits erschließen, denn ihre Briefe gibt es nicht mehr. Er hatte in ihr eine Frau gefunden, die ihm intellektuell ebenbürtig war; einer solchen Frau war Kafka bislang nicht begegnet.

Sie faszinierte ihn derart, dass er von einem „lebendigen Feuer“ spricht. In seinen Brie­fen öffnet er schonungslos sein Inneres, er teilt die tiefsten Gefühle und persönlichsten Gedanken, auch seine Selbstzweifel, mit. Andererseits beschäftigt er sich mit ihren Lebensumständen, sorgt sich um ihre Gesundheit, denn auch sie war an leichter Tu­berkulose erkrankt. Er wünscht und sehnt sich ihre Gegenwart herbei, schreckt aber zurück, als sie ihn einlädt, sie in Wien zu be­suchen. Nach langem Zögern und zermürbenden Briefen macht er doch auf der Rückreise in Wien Halt. Eine dauerhafte Beziehung scheitert aber aus verschiedenen Gründen. Die Briefe sind in ihrer ungeschminkten Offenheit Zeugnis einer tiefen Innenschau und einer großen Liebe. Zu Recht gehören sie heute zur Weltliteratur, ein Briefroman am Anfang des 20. Jahrhunderts.

Im von Ihnen herausgegebenen Buch „Kafka in Meran “ wird der außergewöhnliche Vergleich mit Casanova angestellt. Was hat Kaf­ka mit Casanova gemeinsam?
Franz Kafka ist nicht der asketische Dichter, wie man ihn sich vielleicht vorstellt – wir wissen, dass er sich für Technik interessierte, ein außerordentlich fähiger Versicherungsjurist war, nicht nur gerne ins Kino ging, sondern auch Bordelle aufsuchte… Casanova seinerseits war ein berühmt-berüchtigter Frauenheld. Frauen zo­gen auch Kafka an, seine Beziehungen scheiterten aber alle bis auf die letzte mit Dora Diamant, die der Tod unterbrach. In einem brieflichen Rückblick auf die Meraner Zeit fragt Kafka Milena, ob sie die Bleikammern kenne. Casanova beschreibe sie als den schlimmsten Kerker, einen dunklen feuchten Keller. In gewisser Weise fühle er sich auch schuldig, unbestimmt wie der Angeklagte im „Prozess“, und er habe in Meran zeitweise etwas von der Trost- und Ausweglosigkeit der Bleikammern gespürt.

„Kultur und Politik um 1920“ lautet der Untertitel des Kafka-Buches. Was erfahren wir darin über das Meran um 1920?
Kafka lebt zwar in Meran in einem typischen, etwas aus der Zeit gehobenen Kurort, wie es Hans Heiss im Buch so treffend darlegt, aber der Weltkrieg und seine Fol­gen sowie die Abtretung Südtirols an Italien, hinterließen in Meran tiefe Spuren, die Kafka nicht entgingen. Er erlebte diesen Umbruch, erlebte die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: nicht mehr Teil der untergegangenen Donaumonarchie, noch nicht Teil Italiens. Am Tag seiner Ankunft war das Andreas-Hofer-Denkmal ge­genüber dem Bahnhof eingeweiht worden; er hat es sicher gesehen. Luigi Credaro, der erste Zivilkommissär, wohnte gleichzeitig mit ihm im Hotel Emma. Am 9. Mai fand eine große Autonomiekundgebung rund um das Hofer-Denkmal statt. Reiner Stach, Kafkas Biograf, glaubt sogar, auf einem Foto der Kundgebung Kafka erkannt zu haben.

Wie erlebte er die Stadt?
In der Ottoburg und durch die Zeitungslektüre begegnete Kafka dem Antisemitismus, den er schon von Prag her zur Genüge kannte. Die Lebensmittelknappheit der Nachkriegszeit verspürte Kafka direkt am Mangel von Zucker, den er für seine Limonade bräuchte. Das Kurmittelhaus, wäh­rend der Kriegsjahre Entlausungsanstalt für die Soldaten, war noch geschlossen. An den Grünanlagen erkannte man deutliche Spuren der Gemüsebeete, zu denen sie während des Krieges und auch noch nachher umgewandelt worden waren. Zahlreiche Hotels und Gastbetriebe waren Anfang 1920 geschlossen. Kaf­ka beklagt den Zustand vieler Häuser, die als Lazarette gedient oder für militärische Einrichtungen benutzt worden waren. Während seines Aufenthalts wurden etliche Straßen und Hotels umbenannt. Die Beiträge im Buch tragen noch viele andere Zeugnisse der Übergangszeit zusammen, die Kafka zwar längst nicht alle erwähnt, die er aber als aufmerksamer und sensibler Beobachter fest­gestellt hatte und die ihm von ähnlichen Geschehnissen in Prag her wohlbekannt waren. Die Jahre 1918 bis 1922 sind eine spannende Übergangszeit, der wir im Buch bewusst Raum geben wollten, zumal sie bis jetzt wenig erforscht wurde.

Was fasziniert Sie persönlich an Franz Kafka?
Franz Kafka ist unglaublich modern und aktuell. Seine Hellsicht wirkt geradezu beklemmend. Die Offenheit vieler seiner Werke ver­bietet einen eindeutigen Zugang bzw. eine enge Auslegung. Wenn ich bereits im ersten Kapitel eines Buches erkenne, wie die zukünftige Handlung verläuft, langweilt es mich derart, dass ich nicht mehr weiterlese. Kafkas Werke kann ich hingegen von vielen Sei­ten lesen.

Ich entdecke für mich und im Gedankenaustausch mit anderen immer wieder neue Facetten, andere mögliche Deutungsansätze. Noch ein Drittes: Um Kafkas Werke zu verstehen – sofern das überhaupt bis ins Letzte möglich ist – braucht man keine enzyklopädischen Erklärungen, Detailkenntnisse seiner Biografie usw. In dem Sinne sind sie leicht zugänglich, wenn sie auch in ihrer Dichte manchmal bedrückend auf mich wirken.

von Prof. Paul Imhof, Theologe und Philosoph