Faszinierend und zugleich verstörend: Unser Gehirn gleicht einem hochpräzisen elektrischen Schaltkreis. Elektrische Impulse entstehen im Körper und werden –
ganz im Sinne des binären 0-1-Prinzips – weitergeleitet, wie bei einem Computer. Sind wir am Ende nicht mehr, als perfekt programmierte biologische Maschinen?
von Josef Prantl
Muskelfasern reagieren auf elektrische Reize – auf die „Bits“, die unser Gehirn sendet. Genau diese Schnittstelle zwischen Biologie und Technik fasziniert Hubert Egger seit jeher. Der gebürtige Brixner ist heute Professor für Medizintechnik und gilt als einer der Pioniere auf dem Gebiet der bionischen Prothesen. Seine Entwicklungen ermöglichen es amputierten Menschen, verlorene Gliedmaßen nicht nur zu ersetzen, sondern sogar zu fühlen.
Eggers Forschung verändert Leben – und sie wirft fundamentale ethische Fragen auf: Wo endet der Mensch, wo beginnt die Maschine? Was bedeutet Identität, wenn Körperteile austauschbar und steuerbar werden? In der Welt der fühlenden Prothesen verschwimmen die Grenzen.
Ein Südtiroler, Pionier der fühlenden Prothese
An der Technologischen Fachoberschule in Meran – der früheren Gewerbeoberschule – gibt Hubert Egger Schülern und Lehrpersonen einen Einblick in seine Arbeit. Vor ihm auf dem Tisch liegt eine Armprothese: ausgestattet mit integrierten Sensoren, winzigen Mikrochips und überzogen mit einer hauchdünnen Haut aus Carbonfasern. „Diese Prothese kann fühlen“, sagt Egger. Und in diesem Moment wird deutlich: Es geht hier nicht nur um Technik. Es geht um Menschen.
Hubert Egger stammt aus St. Andrä bei Brixen. Er besuchte selbst die Gewerbeoberschule, studierte Elektrotechnik – und später auch Humanmedizin. Eine ungewöhnliche Kombination, die ihn zum Grenzgänger zwischen zwei Welten machte: zwischen Medizin und Technologie, zwischen Körper und Maschine, zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und ethischer Verantwortung. Egger arbeitete beim weltweit größten Prothesenhersteller Otto Bock, lehrte am Allgemeinen Krankenhaus in Wien und leitet heute den Studiengang Medizintechnik an der Fachhochschule Oberösterreich. Sein Weg zeigt, wie interdisziplinäres Denken unsere Zukunft gestalten kann – und wie Technik dann wirklich sinnvoll ist, wenn sie dem Menschen dient.
Die Bits und Bytes im Körper
Sein Spezialgebiet ist die bionische Prothetik – also künstliche Gliedmaßen, die mit dem menschlichen Körper kommunizieren. „Unser Körper funktioniert unter anderem mit elektrischen Impulsen“, erklärt Hubert Egger. „Das Gehirn arbeitet wie ein Schaltkreis – mit binären Zuständen, mit elektrischen Spannungen, elektrischen Aufladungen und Entladung. Was in der Technik mit Bits und Bytes geschieht, die von fließenden Elektronen gebildet werden, passiert im Körper mit Ionen, die über Membranen von Nervenbahnen fließen.“
Muskelfasern reagieren auf elektrische Reize – ganz ähnlich wie Maschinen auf Steuerungssignale. Eine zentrale Rolle spielt dabei das sogenannte Sarkolemm, die Zellmembran der Muskelzellen. Egger vergleicht sie mit Halbleitern: hochsensible Strukturen, die Signale filtern, verstärken und weiterleiten.
Die Natur als Ingenieurin
„Unser Körper ist ein Wunderwerk voller Sensoren“, sagt Egger. „Die Haut misst Temperatur, Druck, chemische Werte. Das Auge funktioniert wie eine Kamera, das Ohr wie ein Mikrofon. All diese Daten werden in elektrische Signale übersetzt und ans Gehirn gesendet.“ Genau dieses Prinzip nutzt die moderne Medizintechnik. Sie versucht, biologische Signalwege zu verstehen – und technisch nachzubilden. Aus dieser Idee heraus entwickelte Egger eine der weltweit ersten fühlenden Beinprothesen.
Diese sogenannte bionische Prothese wird direkt über Signale aus der Prothese gesteuert, die an das aufsteigende Nervensystem übertragen werden. Viele Patientinnen und Patienten berichten, dass sie den Boden wieder spüren, dass sich Bewegungen natürlicher und kontrollierter anfühlen – beinahe so, als wäre das verlorene Gliedmaß zurückgekehrt. Besonders bemerkenswert: Bei vielen verschwinden die quälenden Phantomschmerzen. „Wenn das Gehirn wieder Rückmeldung erhält, wird die Körperwahrnehmung wiederhergestellt, und das Gehirn muss sie nicht mehr suchen oder gar fehlinterpretieren“, sagt Egger.
Hightech trifft Intuition
Die Prothese der Zukunft arbeitet nicht nur mit Mikrochips und Sensoren, sondern auch mit künstlicher Intelligenz. Diese analysiert Bewegungsdaten, erkennt Muster, trifft Vorhersagen: Muss der Patient gerade balancieren? Steigt er eine Treppe hinauf? Ist Flexibilität gefragt oder mehr Stabilität? Die KI lernt vom Verhalten des Trägers – und passt die Steuerung individuell an. „Künstliche Intelligenz kann in Zukunft das Gehirn beraten, aber nicht ersetzen“, betont Egger. „Sie antizipiert, aber sie entscheidet nicht.“
Südtiroler Prothesen für die Ukraine
Doch modernste Technik hat ihren Preis: Eine bionische Hightech-Prothese kann bis zu 100.000 Euro kosten – für viele Menschen unerschwinglich. Besonders dramatisch ist die Situation in der Ukraine, wo Hubert Egger sich seit Jahren engagiert. Der Krieg hat Tausende Verwundete hinterlassen, viele mit amputierten Gliedmaßen – und kaum Zugang zu hochwertiger Prothetik. Egger organisiert Hilfsaktionen, sammelt gebrauchte Prothesen auch in Südtirol und bringt sie dorthin, wo sie dringend gebraucht werden. „Wir müssen den Menschen helfen – nicht die Märkte bedienen“, sagt er und kritisiert offen die Preispolitik großer Hersteller. „Es gibt zu wenige Anbieter. Die machen enorme Gewinne und halten die Preise hoch.“ Neben seiner praktischen Arbeit im Labor und im humanitären Einsatz beschäftigt sich Egger intensiv mit den ethischen Fragen moderner Medizintechnik. Besonders kritisch bewertet er die Entwicklungen von Elon Musks Unternehmen Neuralink, das daran arbeitet, Chips direkt in das menschliche Gehirn zu implantieren. „Natürlich ist es faszinierend, das Gehirn direkt anzuzapfen“, sagt Egger. „Aber wo endet Unterstützung – und wo beginnt Manipulation?“ Hilfen wie Exoskelette für Querschnittgelähmte oder intelligente Kleidung mit integrierten Sensoren seien sinnvoll. Doch Gehirnimplantate zur Leistungssteigerung? Für Egger ein klares Warnsignal: „Das ist ethisch höchst bedenklich.“
Technik mit Verantwortung
Für Hubert Egger ist klar: Die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine ist nicht nur eine technische, sondern vor allem eine ethische Herausforderung. „Der Mensch darf nicht zum Datenträger reduziert werden“, sagt er. „Technik soll dem Menschen dienen – nicht ihn ersetzen.“ Neben der Entwicklung neuer Prothesen arbeitet Egger an Modellen mit integriertem Feedbacksystem. Diese senden Berührungen, Druck oder Temperaturreize direkt an das Nervensystem zurück. „Je natürlicher die Rückmeldung, desto größer der Nutzen für die Betroffenen“, erklärt er. Was ihn antreibt? „Ich möchte, dass Menschen mit Beeinträchtigung ein würdevolles, selbstbestimmtes Leben führen können – unterstützt durch Technik, nicht abhängig von ihr.“ In der Ukraine, sagt Egger, gehe es oft um das nackte Überleben. Der Wissenschaftler, der einst das Handwerk eines Betriebselektrikers erlernte, hat sich seinen ganzheitlichen Blick bewahrt. Vielleicht sind seine Bodenständigkeit und die menschlichen Aspekte auch das Ergebnis seines Aufwachsens auf einem Bauernhof, wo er sich als technikaffiner junger Mensch von bionischen Prinzipien inspirieren ließ. Hubert Egger denkt nicht nur in Algorithmen, Schaltplänen oder Sensoren. Er denkt an Menschen. An ihre Würde, ihre Verletzlichkeit – und daran, wie eine fühlende Prothese nicht nur das bessere Gehen ermöglicht, sondern auch ein Stück Leben zurückgeben kann.
Pilotprojekt in Südtirol
Die Landesregierung hat für den Zeitraum 2023-2026 ein Pilotprojekt genehmigt, wonach die hochtechnologischen Prothesen bis zum 31. Dezember 2026 versuchsweise gewährt werden können. Bis dahin können sich einzelne Patienten, die dafür laut Bewertung des zuständigen Primararztes in Frage kommen, dem chirurgischen Verfahren unterziehen, das für den Einsatz der bionischen Prothesen erforderlich ist. In Verbindung mit den neuartigen bionischen Gliedmaßen-Prothesen wird davon ausgegangen, dass unter anderem die Phantomschmerzen deutlich verringert werden können, mit entsprechendem Rückgang des Bedarfs an Medikamenten und Rehabilitationsbehandlungen
Ein Gespräch mit Prof. Hubert Egger über bionische Prothesen, Ethik und Menschlichkeit in der Medizintechnik
Der gebürtige Brixner Prof. Hubert Egger stammt aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen. Heute ist er ein international anerkannter Pionier der Medizintechnik – bekannt für seine Entwicklungen im Bereich der bionischen Prothetik. Für seine wissenschaftliche Arbeit und sein soziales Engagement wurde er mehrfach ausgezeichnet: darunter mit der Ehrenmedaille der Stadt Brixen (2019), dem Titel Südtiroler des Jahres (2013), Oberösterreicher des Tages (2015) sowie der Auszeichnung für besondere berufliche Leistungen (2009).
Die BAZ sprach mit ihm über seine Arbeit, seine Motivation – und über Technik mit Verantwortung.
Herr Professor Egger, Sie sagen, der menschliche Körper funktioniere wie eine Maschine. Ist das nicht erschreckend?
Hubert Egger: Das ist eine gute Frage. Es ist mir ein Anliegen, etwas ausführlicher darauf einzugehen. Ich meine damit, dass in der Medizintechnik die Funktion einzelner Teilbereiche des menschlichen Körpers häufig mit maschinellen Komponenten verglichen werden können. So wird beispielsweise das Herz mit einer Pumpe verglichen, die im Laufe eines Lebens etwa 200 Millionen Liter Blut durch den Körper befördert. Auch das menschliche Skelett lässt sich gut mit einem Tragwerk vergleichen, das Kräften und Drehmomenten standhalten muss. Die Wirbelsäule wirkt dabei wie eine elastische Stütze, die gleichzeitig Beweglichkeit zulässt – vergleichbar mit einem gefederten Mast. Ebenso können Nervenfasern mit elektrischen Leitungen verglichen werden – mit faszinierenden biologischen Besonderheiten. Die genannten Vergleiche helfen zu verstehen, wie der menschliche Körper physikalische Herausforderungen meistert – und wie sich eingeschränkte Körperfunktionen mit technischen Methoden unterstützen oder sogar ersetzen lassen. Künstliche Hüft- oder Kniegelenke, Zahnimplantate, Herzschrittmacher oder Gliedmaßenprothesen demonstrieren eindrucksvoll, wie das gelingen kann. Die jeweilige technische Lösung bildet jedoch stets nur einen sehr kleinen Teilbereich des Ganzen ab. Es ist mir daher wichtig zu betonen, dass der Mensch als Ganzes niemals als Maschine betrachtet werden darf – das wäre in der Tat erschreckend. Gefühle lassen sich in technischen Modellen nicht abbilden. Die Fähigkeit zu lieben, zu hassen, zu trauern oder Mitgefühl zu empfinden, macht das Wesen des Menschen aus – und bleibt von der Technik unberücksichtigt. Auch Künstliche Intelligenz (KI) basiert auf mathematischen Modellen und der hohen Rechenleistung moderner Computersysteme.
Was hat Sie ursprünglich dazu inspiriert, in die Welt der Medizintechnik und Prothesenentwicklung einzutauchen?
Angetrieben von meiner Faszination für Technik habe ich mir oft die Frage gestellt: „Wie hat die Natur Herausforderungen gelöst, um ein Lebewesen zu dem zu machen, was es ist?“ Meine Neugierde führte dazu, dass ich Anfang der 1990er-Jahre Humanmedizin studierte und als Pflegehelfer in einem Wiener Krankenhaus für chronisch kranke Menschen arbeitete.
Mein Elektrotechnikstudium hatte ich zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen und arbeitete in Teilzeit als Assistent am Institut für Nachrichtentechnik und Hochfrequenztechnik der Technischen Universität Wien. Im Nachtdienst bat mich eine demenzkranke Patientin, ihre schmerzenden Füße mit einer schmerzlindernden Salbe einzucremen. Allerdings hatte die Patientin keine Füße, da sie beidseitig oberschenkelamputiert war. Das war ein Schlüsselerlebnis für mich. Die Frage, warum ein Körperteil schmerzen kann, obwohl er nicht mehr vorhanden ist, hat mich sehr bewegt und nicht mehr losgelassen. Ich stieß auf das Phänomen der Phantomschmerzen und versuchte, deren Entstehung in einem elektrischen Schaltplan nachzuvollziehen. Mein Wissen über elektrische Signale aus dem Elektrotechnikstudium und ihre Bedeutung im menschlichen Körper aus dem Medizinstudium führte mich schließlich zur Medizintechnik und Prothetik.
Die Prothesen, die Sie entwickeln, bezeichnet man als bionisch. Was unterscheidet sie von herkömmlichen Modellen?
Eine bionische Prothese unterscheidet sich von einem herkömmlichen Modell aus der Sicht des Anwenders durch das besondere Nutzungserlebnis. Die Prothese kann komplexe Handlungen wie Greifen, Drehen oder sogar die Feinmotorik einer natürlichen Hand erstaunlich präzise nachahmen. Dies geschieht durch Elektromyografie (EMG), bei der elektrische Signale der Muskeln erfasst werden, oder durch neuere Technologien, die eine direkte neuronale Schnittstelle ermöglichen. Darüber hinaus erlaubt eine bionische Prothese die Wiederherstellung des Tastsinns, indem sie sensorische Informationen an das Gehirn des Trägers weiterleitet. Dies wird durch Sensoren in der Prothese erreicht, die zum Beispiel Druck-, Vibrations- und Temperaturreize erfassen und diese an das Nervensystem übermitteln. Die bionische Prothese wird auf diese Weise fühlend und besser in das Körperbild des Trägers integriert, der zu einem höheren Maß an Selbstständigkeit und Unabhängigkeit gelangt.
Welche Entwicklungen erwarten Sie in den nächsten Jahren? Gibt es bestimmte Technologien, auf die Sie besonders gespannt sind?
In den nächsten Jahren erwarte ich bedeutende Fortschritte in der Medizintechnik – insbesondere an der Schnittstelle Mensch – Maschine. Die Künstliche Intelligenz (KI) wird zunehmend eine Rolle spielen. Dabei geht es nicht nur um eine verbesserte Steuerung, sondern auch um die Fähigkeit, aus Nutzerdaten zu lernen und sich individuell an die Bewegungsmuster, Gewohnheiten und Bedürfnisse der einzelnen Patienten und Patientinnen anzupassen. Ein besonders spannender Bereich ist die Integration lernfähiger Algorithmen, die Bewegungen in Echtzeit analysieren und optimieren können. So könnten Prothesen in Zukunft vorausschauend agieren – etwa indem sie Stolpergefahren erkennen oder sich automatisch an unterschiedliche Untergründe anpassen. Auch im Bereich der sensorischen Rückmeldung wird KI dazu beitragen, Reize intelligenter zu interpretieren und realistischer an das Nervensystem weiterzuleiten. Zudem werden moderne Prothesen direkt im Körper verankert werden – ein Verfahren, das als Osseointegration bezeichnet wird und sich mit dem Prinzip eines Zahnimplantats vergleichen lässt. Dabei wächst das Implantat fest in den Knochen der Restgliedmaße ein und bildet eine stabile Verbindung zwischen Körper und Prothese. Dies ermöglicht eine deutlich verbesserte Kraftübertragung, mehr Bewegungsfreiheit und erhöhten Tragekomfort im Vergleich zu herkömmlichen Schaftprothesen. Besonders bei hohen Amputationsniveaus gilt diese Technologie als zukunftsweisend.
Moderne Medizintechnik wirft auch schwierige ethische Fragen auf – vor allem, wenn es um Eingriffe in den menschlichen Körper geht.
Wie gehen Sie persönlich damit um?
Das stimmt. Moderne Medizintechnik bringt nicht nur beeindruckende Möglichkeiten, sondern auch komplexe ethische Fragestellungen mit sich. Besonders bei direkten Eingriffen in den menschlichen Körper, etwa durch Implantate oder neuronale Schnittstellen, stehen wir vor der Herausforderung, technische Machbarkeit mit menschlicher Würde, Selbstbestimmung und Sicherheit in Einklang zu bringen. Ich halte es für essenziell, technologische Entwicklungen nicht losgelöst, sondern im gesellschaftlichen, kulturellen und individuellen Kontext zu betrachten. Jeder Eingriff muss gut begründet, transparent kommuniziert und freiwillig entschieden sein. Außerdem ist es mir wichtig, dass Betroffene aktiv in Entwicklungsprozesse einbezogen werden. Ich achte auch sehr bewusst darauf, technische Fortschritte nicht selbstverliebt oder unreflektiert darzustellen. Selbstkritische Fragen sind genauso Bestandteil meiner Vorträge, wie die Einbeziehung der Zuhörer – sei es im wissenschaftlichen Kontext oder im persönlichen Austausch. Ich bin für jede Rückmeldung, jede Meinung und kritische Anmerkung dankbar. Meine Vorlesungen und Vorträge enden daher stets mit offenen Fragen, die unter anderem auch auf die ethische Verantwortung in der Medizintechnik hinweisen. Gerade junge Menschen in Ausbildung, die sich auf einen ähnlichen beruflichen Weg begeben, müssen diese Verantwortung nicht nur erkennen, sondern auch bereit sein, sie mitzutragen.
Sie engagieren sich stark in der Ukraine, um Kriegsopfern zu helfen. Wie hat dieses Engagement Ihre Perspektive auf Ihre Arbeit verändert?
Die Arbeit in der Ukraine hat mich in meiner bisherigen Sichtweise bestärkt, Prothesen so zu entwickeln, dass sie für alle Menschen die sie brauchen, verfügbar und leistbar werden. Leider kommen den betroffenen Menschen in Schwellen- und Entwicklungsländern die Fortschritte in der Gliedmassenprothetik nicht im selben Ausmaß zugute, wie in den Industrieländern. Ähnlich ist es in Kriegsgebieten. Die Gründe dafür sind meist große infrastrukturelle Herausforderungen und ein Mangel an qualifiziertem Fachpersonal. Dies stellt insofern ein Dilemma dar, als gerade in Kriegsgebieten die Anzahl der Menschen mit Amputationen steigt und dadurch ein höherer Bedarf an leistungsfähigen und vor allem kostengünstigen Prothesen entsteht.
Die Kosten für bionische Prothesen sind enorm hoch. Was müsste geschehen, damit diese Technologie für mehr Menschen zugänglich wird?
Ein wesentlicher Kostenfaktor liegt derzeit in der aufwendigen Herstellung, der komplexen Sensorik und Aktuatorik, der individualisierten Anpassung sowie der geringen Stückzahl. Um die Zugänglichkeit zu verbessern, braucht es in meinen Augen nicht nur technologische, sondern auch strukturelle und wirtschaftliche Innovationen. Ein Weg könnte darin bestehen, Start-ups zu fördern , die sich gezielt mit der kostengünstigeren Herstellung von Prothesen befassen und den Gemeinwohlaspekt in den Vordergrund stellen. Solche Unternehmen könnten bestehende Entwicklungsprozesse und Materialien, modulare Designs und digitale Fertigungsverfahren nutzen, um sowohl Kosten als auch Produktionszeiten zu senken. Gleichzeitig braucht es politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die soziale Innovationen fördern und gemeinwohlorientierte Geschäftsmodelle unterstützen. Langfristig könnten offene Entwicklungsplattformen, stärkere internationale Zusammenarbeit und eine bewusste Ausrichtung auf soziale Gerechtigkeit dazu beitragen, dass bionische Prothesen nicht länger eine Art Luxusgut bleiben.
Wie ist die Situation in Südtirol? Wie gut sind Patientinnen und Patienten hierzulande mit moderner Prothetik versorgt?
Südtirol liegt geografisch günstig und profitiert von seiner Anbindung an den italienischen und deutschen Sprachraum. Diese Lage fördert den Austausch zwischen Kulturen und wissenschaftlichen Traditionen. Aktuell werden in Südtirol Maßnahmen ergriffen, um die Versorgung mit modernen Prothesen zu verbessern, wie etwa ein Pilotprojekt am Krankenhaus Bozen. Zudem hat die Landesregierung vor kurzem neue Maßnahmen zur Optimierung von Dienstleistungen, insbesondere im Bereich Prothesen und Medizinprodukte, verabschiedet. Leider erfahren viele Menschen mit Amputationen oft nur zufällig über die Medien von den Möglichkeiten moderner Prothesen und wissen nicht, ob und wie sie davon profitieren können. Für Menschen mit eingeschränkter Mobilität ist es wichtig, dass Anfahrtszeiten zu Experten nicht zu groß sind, um qualifizierte Beratung zu erhalten – ein Problem, das auch in Südtirol aufgrund der ländlichen Lage besteht. Hinzu kommt, dass Amputierte oft mit einem Trauma kämpfen und Prothesen in der Gesellschaft vielfach als Tabu betrachtet werden. Der gesellschaftliche Wandel hin zu mehr Inklusion kann jedoch das Stigma reduzieren. Sportveranstaltungen und positive Medienbilder tragen ebenfalls zur Bewusstseinsbildung bei. In diesem Zusammenhang danke ich aufrichtig den Schulen und Bildungseinrichtungen in Südtirol, die das Thema Prothetik aufgreifen und damit nicht nur zur Aufklärung und besseren Akzeptanz beitragen. Für viele Schülerinnen und Schüler wird so das Thema erstmals sichtbar. Bei meinen Vorträgen erlebe ich vielfach das Interesse der jungen Menschen, die berufliche Ausrichtung mit eigenen Ideen auf diesem Gebiet weiterverfolgen und so aktiv zur Weiterentwicklung der Medizintechnik und Prothetik in Südtirol beitragen. Das ist genau der richtige Weg, um Menschen mit Amputationen bestmöglich prothetisch zu versorgen.