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Zehn Monate bei den Alpini

Straßennamen können Erinnerungen hervorrufen. Paul McCartney zum Beispiel denkt in der Penny Lane in Liverpool an seine Jugend. Bei mir ist es die Alpinistraße in Meran, die das Gedächtnis in Gang setzt. Eine persönliche Straßengeschichte in zwei Teilen.

Die Alpini wurden 1872 in Italien gegründet und gelten damit als älteste aktive Gebirgsjägertruppe der Welt. Sie stellen eine Untergattung der Infanterie des italienischen Heeres dar und verwenden, wie auch andere Gebirgstruppen, eine typische Kopfbedeckung, den Alpini-Hut. Als ich im Sommer 1999 meinen Einberufungsbefehl im Postfach fand, war mir das allerdings herzlich egal. In zwei Wochen sollte ich mich in Belluno einfinden, um meinen Militärdienst abzuleisten. Ich hatte wenig Ahnung, was mich erwarten würde. Schon der erste Tag war mit merk-würdigen Erlebnissen gepflastert, so dass ich beschlossen hatte, darüber Buch zu führen. Nach 301 Tagen lagen zwei vollgeschriebene Hefte vor mir, die Tag für Tag all das enthielten, was vorgefallen war. Diese Aufzeichnungen nach fast einem Vierteljahrhundert zu lesen, ruft Erinnerungen wach, die von haarsträubenden Absurditäten und komischen Begebenheiten ebenso erzählen wie von Zusammenhalt und Freundschaft.

Der Tag begann um 6.30 Uhr. In kürzester Zeit war das Bett nach genauen Vorgaben zu machen. Schon am ersten Tag hatte ich gelernt, dass es in der Sprache Dante Alighieris Flüche und Vulgaritäten gibt, von denen ich bisher keine Ahnung hatte. Sehr bald wurde über Nonnismo gesprochen – Rituale und Schikanen, die die Hackordnung zwischen Älteren und Jüngeren festlegen. Dass sich Älte­re beim Essen vordrängten, so ein Vorgesetzter, sei hingegen kein militärisches, sondern eher ein italienisches Problem. Im Ausland würden sich Schlangen von allein bilden, in Italien versuche jeder jeden zu „fregieren“.
Nach etwa drei Wochen kamen wir nach Trient und wurden unseren Einheiten zugewiesen. Erste Erkenntnis: Alles, was wir in Belluno gelernt hatten, zum Beispiel wie man die Leintücher richtig faltet, hatte keine Bedeutung mehr. Es sei selbstverständlich auf eine andere und nur auf diese Weise zu erledigen. Was ich damals noch nicht wusste: Das Umlernen wird zu einer Dauerbeschäftigung werden. Das lebenslange Lernen, von dem ich in meinem Studium so viel gehört hatte, wurde hier gelebt.
Lauschte man abends den Gesprächen, so drängte sich das Gefühl auf, hier würden die tapfersten Burschen versammelt sein. Die Wirklichkeit sah oft anders aus. Eines Tages rief uns der Capitano zusammen und stellte einige Dinge klar. Wir sollten nicht wegen jeder Kleinigkeit bei ihm oder, noch schlimmer, beim Colonello anrufen, um uns über etwas zu beschweren. Allein in dieser Woche hätten sich bei ihm zehn Mütter, fünf Marescialli, zwei Tenenti und ein General gemeldet. Das müsse aufhören. Zu meinen Aufgaben gehörte es, Dienste zu organisieren und die täglichen Schreib­arbeiten zu erledigen. Für den Morgenappell galt es eine Tafel mit der Anzahl der anwesenden Soldaten vorzubereiten. Die Zahlen wurden aus dem Computer ausgelesen und stimmten in den seltensten Fällen. Das war aber ein bekanntes Problem und niemand stieß sich daran. Zu unseren täglichen Routinen gehörte auch das Protokollieren eingegangener Schreiben. Obwohl es 89 verschiedene Kategorien gab, mussten fast 90 % der Dokumente im Archiv unter 01/003 eingeordnet werden – „Varie“, Verschiedenes.

Das Essen in der Kaserne war ein eigenes Thema. Umgerechnet nur etwa 2,50 € kostete die Verpflegung pro Soldat und Tag, wie eine detailliert aufgeschlüsselte Liste am Eingang des Speisesaals informierte. Damals wurde die Küche des Regiments an einen privaten Cateringservice übergeben. In den ersten Tagen verbesserte sich das Angebot, danach lief alles in gewohnten, akzeptablen Bahnen. Trotzdem aßen nicht wenige Soldaten außerhalb auf eigene Kosten, auch um in den Pizzerien ein normales Klo benutzen zu dürfen. In der Kaserne gab es nur die wenig bequemen Hocktoiletten.

Dass man mich dann für den Campo in Sardinien eingeteilt hatte, kam überraschend, hatte man doch noch kurz vorher betont, mich aufgrund meiner Ausbildung im Büro zu brauchen. Die Zelte waren verpackt, alle Gerätschaften verstaut, der Konvoi fast schon startklar, da wurde offensichtlich, dass es sich um eine Verwechslung mit einem Landsmann gleichen Familiennamens handelte. Für beide Seiten eine Erleichterung – ich wäre der Koch gewesen.
Fortsetzung folgt …
Christian Zelger