Operationszone Alpenvorland

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Operationszone Alpenvorland

„Militärische Sonderoperation“ bezeichnet der russische Präsident Putin den Angriffskrieg auf die Ukraine. Eine sogenannte „Operationszone“ hat es auch bei uns einmal gegeben:
Vor genau 80 Jahren wurden die Provinzen Bozen, Trient und Belluno von den Nazis zur „Operationszone Alpenvoland“ zusammengeschlossen. In den Schulen und in den
meisten Gemeindestuben hing von nun an anstelle des Kreuzes das Bild des Führers.
von Josef Prantl

Leopold Steurer ist ein profunder Kenner der jüngeren Geschichte unseres Landes. Der Meraner Historiker war auch einer der ersten, der sich in den 1980er Jahren an die historische Aufarbeitung der Jahre 1943 – 1945 wagte. Der „Föhn“ brachte damals das Buch „Südtirol 1939 – 1945 – Option, Umsiedlung, Widerstand“ heraus. Mit Claus Gatterer, Gerhard Mumelter und anderen wagte sich Steurer an diese aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verdrängten Jahre. „Mit Schweigen wurde das Buch in der Öffentlichkeit übergangen, einzig das „Katholische Sonntagsblatt“ berichtete von der Veröffentlichung“, erinnert sich Steurer. Damit machte er sich damals auch keine Freunde. Zu stark war noch die Kriegsgeneration, die jene „braune Vergangenheit“ lieber vergessen bzw. unter den Tisch gekehrt hätte.

Italien im Sommer 1943
Vorausgegangen waren die Absetzung, Festnahme Was und dann Befreiung von Benito Mussolini durch eine Gruppe Fallschirmspringer unter der Führung eines österreichischen SS-Hauptsturmführers im Sommer 1943. In der Nacht vom 8. auf den 9. September waren deutsche Truppen prompt über den Brenner in Italien einmarschiert und besetzten im Handstreich das ganze Land. „Operation Achse“ lautete der Deckname der Operation nach dem Austritt Italiens aus dem Stahlpakt zwischen Hitler und Mussolini. Die italienischen Streitkräfte ließen sich zumeist widerstandslos entwaffnen und wurden nach Deutschland zur Zwangsarbeit deportiert. Ihre Zahl dürfte sich auf rund 600.000 belaufen. Die ehemaligen Verbündeten wurden als Verräter und – in Anspielung auf den neuen italienischen Regierungschef Badoglio – als „Badoglio-Schweine“ beschimpft. Rund 40.000 „Italienische Militär­internierte“ (IMI) kamen während der Gefangenschaft durch Gewalt, Hunger und Kälte ums Leben. Die überstürzte Flucht nicht nur des Königs und seiner Familie, sondern auch von Ministern und Generälen aus Rom führte dazu, dass die italienischen Streitkräfte führungslos wa­ren. Die neue italienische Regierung unter dem skrupellosen General Pietro Badoglio in Brindisi hatte bei der Bevölkerung und dem Militär zu allgemeiner Verwirrung und Unsi­cher­heit geführt.

8. September – Trügerische Befreiung
Für die meisten Südtiroler war der Einmarsch der Wehrmacht vor 80 Jahren zuerst einmal ein Tag der Befreiung. Während der Großteil der deutschen Bevölkerung über das Ende der faschistischen Herrschaft jubelte, begann für andere aber eine harte Zeit der Ausgrenzung und der Verfolgung. Die rund 100.000 Italiener in Südtirol, die seit den 1920er Jahren aus allen Landesteilen zugewandert waren, trieb nun die Angst um. „Zum ersten Mal entstand bei den Italienern aber auch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit“, sagt Steurer. Schließlich waren sie aus allen Provinzen Italiens zu­gewandert und fühlten sich nun selbst als Minderheit bedroht, hatten Sorge vertrieben oder sogar gefangen genommen zu werden.

Gute Nazis tragen weiße Socken und den Sarner bei der Beerdigung

Mai 1944: Gauleiter Hofer und Merans SOD-Chef Franz Runge vor dem Kaiserhof

Die Gleichschaltung
Zwanzig Monate wurden Südtirol, Trentino und Belluno vom Tiroler Gauleiter Franz Hofer, dem Obersten Kommissar der Operationszone Alpenvorland, verwaltet … ein Gebiet mit einer knappen Million Einwohner. Mussolini selbst hatte von Salò am Gardasee aus die „Repubblica Sociale Italiana (RSI)“ ausgerufen, eine Art Marionettenstaat der Deutschen, denn in Wirklichkeit war Italien nun ein besetztes Land.

Eifrige Unterstützer, wenig Widerstand
Bei uns fanden die Nazis eifrige Helfer. Der sogenannte Sicherungs- und Ordnungsdienst, kurz SOD, war aus der Arbeitsgemeinschaft der Optanten für Deutschland (AdO) hervorgegangen und leistete ganze Arbeit. Diese polizeiähnliche bewaffnete Truppe übernahm vor allem in den Dörfern handstreichartig die Macht und konnte so den später nachrückenden deutschen Einheiten ein bereits gesichertes und kontrolliertes Gebiet übergeben.
Am 8. September verbreitete um 20 Uhr das Radio in einer Sondermeldung den Waffenstillstand Italiens mit den Alliierten. Geradezu euphorisch begrüßten die Südtiroler die ersten deutschen Landser, die einmarschierten. Nur eine Minderheit war bei aller Freude über das endgültige Aus des Faschismus aber auch besorgt und erkannte die Gefahr, dass Südtirol nun Kriegsgebiet werden könnte. Nach außen hin herrschten aber bei weitem großer Jubel und ausgelassene Freude vor. Diese Minderheit waren die Dableiber, aber auch die öffentlich bekannten Gegner des Naziregimes und vor allem die jüdischen Mitbürger. Der braune Terror gegen sie ließ auch nicht lange auf sich warten.

Kein Anschluss an das Reich
Nachdem das Saarland 1935 und vor allem Österreich 1938 an das Deutsche Reich angeschlossen worden waren, glaubte man in Südtirol nun selbst an der Reihe zu sein. Hitler ließ aber schon bald erkennen, dass er sein einstiges Vorbild Mussolini nicht bloßstellen wollte. Trotzdem änderte sich bei uns schlagartig vieles. In die untere und mittlere Verwaltung wurden nun die Südtiroler wieder einbezogen, während die obersten Posten den „reichsdeutschen“ Nazis verblieben. Zum Präfekten des Landes wurde der Schneidermeister und ehemalige VKS- und AdO-Leiter Peter Hofer ernannt, der italienische Präfekt war längst geflohen. Hofers Amtszeit sollte allerdings nur wenige Monate dauern, denn schon im Dezember 1943 fiel er während einer Inspektionsfahrt durch die Bozner Weggensteinstraße einer Fliegerbombe zum Opfer. „Der erste Bombenangriff der US-Luftwaffe auf das Bozner Bahnhofsviertel war bereits am 2. September 1943 erfolgt“, sagt Steurer. Auf Peter Hofer folgte Karl Tinzl als Präfekt. Die Podestà in den Südtiroler Gemeinden wurden allesamt abgesetzt und Südtiroler übernahmen die Verwaltung: Fritz Führer in Bozen, Karl Erckert (später der erste Landeshauptmann Südtirols) in Meran, Hans Stanek in Brixen und Ernst Lüfter in Bruneck, um nur die größeren Städte zu nennen. Italienische Beamte wurden in großer Zahl entlassen. Im Trentino und in Belluno blieben die Podestà allerdings im Amt. Die historische Aufarbeitung des Verwaltungsapparates in diesen 20 Monaten stehe noch aus, mahnt Steurer.

Brauner Terror
Die Faschistische Partei wurde schnell verboten und als einzige politische Vertretung die „Deutsche Volksgruppe Südtirol“ zugelassen, zu der die AdO im Oktober 1943 umbenannt worden war. „Ein 1:1-Abbild der NSDAP“, erklärt Steurer, „und wie im Deutschen Reich in Kreise, Ortsgruppen, Zellen und Blöcke gegliedert.“ Die Gleichschaltung der Bevölkerung war oberstes Ziel, schließlich mussten frische Soldaten für den Krieg gewonnen werden. Das letzte Aufgebot Hitlers, der Volkssturm im Reich wurde bei uns in den Standschützen-Bataillons gefunden. Vier Polizeiregimenter wurden aufgestellt, das Attentat auf das Regiment Alpenvorland in der Via Rasella in Rom am 23. März 1944 hat italienische Geschichte geschrieben. Sofort wurden der dem NS-Regime kritisch gegenüberstehende Athesia-Verlag beschlagnahmt, die „Dolomiten“ verboten und durch das Nazi-Propagandablatt „Bozner Tagblatt“ ersetzt. Dessen Chefredakteur war der später durch seine landeskundlichen Bücher bekannte Alpinist, Autor und Skipionier Gunther Langes. Die führenden Exponenten der Dableiber wurden verhaftet, zum Teil in Konzentrationslager bzw. Gefängnisse gesperrt oder zumindest mundtot gemacht. Darunter waren der spätere Senator Friedl Volgger und der Sarner Franz Thaler (beide wurden nach Dachau deportiert), der spätere Senator und erste SVP-Landessekretär Josef Raffeiner und Dableiber Paul von Sternbach, der mit 74 Jahren noch ins Gefängnis geworfen wurde. Kanonikus Michael Gamper war einer Verhaftung durch seine Flucht in die Toskana, wo er sich in einem Kloster versteckte, entgangen. Friedl Volgger schreibt in seinen Memoiren „Mit Südtirol am Scheideweg“ von 21 Südtirolern, die in den Konzentrationslagern hingerichtet wurden, 166 Südtirolern, die in ein KZ deportiert und 140 Südtirolern, die in den 20 Monaten unter dem Hakenkreuz ins Gefängnis geworfen wurden. 276 Südtiroler sollen desertiert sein, mehrere Dutzend Deserteure versteckten sich im Passeiertal, das seitdem bei den Nazis als gefährliches Partisanengebiet galt. Leopold Steurer glaubt, dass die tatsächlichen Zahlen der von den Nazis in den Jahren 1943 – 1945 getöteten bzw. gefangen gehaltenen Südtirolern allerdings noch um einiges höher ausfällt. Die faschistischen Italianisierungsbestimmungen wurden zwar zurückgenommen und die Wiederbelebung der deutschen Kultur und Brauchtumspflege – freilich unter NS-Vorzeichen – vorangetrieben. „Es ist schon beachtlich, wie schnell sich das NS-Gedankengut in die Südtiroler Gesellschaft infiltriert hat und die Bevölkerung auf den totalen Krieg vorbereit wurde“, sagt Steurer.

Van der Bellen und Mattarella besichtigten das Lager

Der Meraner Historiker Leopold Steurer

Sondergericht Bozen
Für politische Gegner wurde in Bozen ein Sondergericht eingerichtet, das rund 40 Todesurteile in den 20 Monaten fällte. Sondergerichte waren im Dritten Reich ab 1933 eingerichtet worden, um die rasche Aburteilung von An­dersdenkenden zu ermöglichen. Die Rechte der Beschuldigten wurden dazu stark beschränkt. Das Sondergericht für die Operationszone Alpenvorland wurde meist von Richtern und Staatsanwälten aus dem Gau Tirol-Vorarlberg mitbetreut. Aufgrund der vorhandenen Akten können für das Jahr 1944 etwa 400 Verhandlungen und für 1945 etwa 200 Fälle angenommen werden. „Die bisher angenommene Zahl von 40 vollstreckten Todesurteilen des Sondergerichts Bozen muss aufgrund der hohen Zahl von über 600 Fällen am Sondergericht Bozen nach oben korrigiert werden“, schreibt der Historiker Gerold Steinacher. Am 4. Juli 1944 wurde zum Beispiel der Meraner Richard Reitsamer wegen Wehrdienstverweigerung zum Tode verurteilt. Vor dem Gericht berief er sich auf das Wort von Papst Pius XII.: „Mit Frieden ist nichts verloren, aber durch Krieg kann alles verloren gehen.“ Und „als gläubiger Katholik kämpfe ich nicht für Hitler“, sagte Reitsamer. Ein Stolperstein in Meran erinnert heute an den Bauernknecht.

Deportation der Meraner Juden
Am schlimmsten traf es aber die noch zurückgebliebene jüdische Bevölkerung in Meran, die nicht geflohen war. Bis 1938 lebten rund 1000 Juden in der Passerstadt und einige hunderte Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland und Österreich. Bereits 1933 war es zu antisemitischen Aktionen gekommen, seit 1931 gab es in Meran eine NSDAP-Ortsgruppe, die aus reichsdeutschen Staatsbürgern bestand. Mit den italienischen Rassengesetzen von 1938 mussten Juden, welche die italienische Staatsbürgerschaft nach 1919 erhalten hatten, das Land verlassen. Juden wurden aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen. Viele tauchten unter oder flohen, erst nach Oberitalien, ab 1943 vor allem in die Schweiz. Im September 1943 wurden 25 Juden verhaftet und ins Lager Reichenau bei Innsbruck gebracht, die meisten von ihnen kamen später in Konzentrationslagern um. Stolpersteine, die in der Stadt verteilt sind, erinnern heute an die verfolgten und ermordeten Juden. An der Aufspürung, Gefangennahme, Misshandlung, Deportation und Plünderung der Juden Merans waren nachweislich Südtiroler beteiligt. Nach dem Krieg wurden die Südtiroler Täter kaum zur Rechenschaft gezogen, die Namen sind aber bekannt.

Das KZ von Bozen
Es hat lange gedauert, bis das Lager in Bozen beim Namen genannt wurde. Erst die jüngere Generation unter uns hat vom Konzentrationslager in der Bozner Reschenstraße im Schulunterricht erfahren. Im Sommer 1944 eröffnet, wurden hier rund 11.000 Menschen gefangen gehalten, die meisten für kurze Zeit. Denn die Partisanen, Antifaschisten, Juden und viele andere mehr wurden hier nur gesammelt, um dann weitergeschickt zu werden, nach Mauthausen, Dachau, Flossenbürg, Ravensbrück und Auschwitz, wo die meisten von ihnen ums Leben kamen. Im Lager waren aber auch sogenannte Sippenhäftlinge, das sind Angehörige von Südtiroler Deserteuren: von SOD-Männern gefangen genommen und von Südtirolern im Lager gefangen gehalten.

Nicht schweigen, nicht wegschauen
Es gibt nur mehr wenige Zeitzeugen, ältere Menschen in den Dörfern, die noch wissen, was sich die „Nazis“ von damals zuschulden kommen ließen. Allzu oft fanden sich nach dem Krieg viele von ihnen bald wieder an den Schalthebeln der Macht. Franz Runge zum Beispiel: Der 1895 in Franzensfeste geborene Runge war einer der Gründungsväter des „Südtiroler Ordnungsdienstes“ (SOD) und in dieser Rolle maßgeblich an der Deportation der Meraner Juden beteiligt. Im Herbst 1964 zog Runge für die SVP in den Südtiroler Landtag ein. Im Nachkriegssüdtirol wurden die Täter schon bald wieder hofiert. Das hat die Leidtragenden und Opfer von damals sehr verletzt. Die Geschichten von den kleineren und größeren Verbrechen wurden zumeist nicht aufgearbeitet, es wurde nicht darüber geredet, sondern geschwiegen. Und die vielen Enteignungen, Beschlagnahmungen usw. warten auf eine Wiedergutmachung, wenigstens auf eine moralische. Das Narrativ, Südtirol sei Opfer zweier Diktaturen geworden, also des Faschismus und des Nationalsozialismus, hat eine kritische Auseinandersetzung auch oft blockiert. Es stimmt auch nicht: Wir waren beides, Opfer und Täter. Es ist schon viel erreicht, wenn wir uns heute mit Demut der Tragödie von damals erinnern, der Intoleranz, dem Nationalismus, Hass und der Ausgrenzung von Menschen uns mutig entgegenstellen und überall dort, wo Menschen Unrecht angetan wird, nicht mehr wegschauen.