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Wenn ein Tor erzählen könnte …

Eine alte Aufnahme vom ehemaligen „Ultner“ Stadttor

Vier Himmelsrichtungen, vier Evangelisten, vier Nukleinbasen der DNA und vier Stadttore in Meran: Nein, nicht ganz. Von Letzteren gibt es nur mehr drei. Die Suche nach dem vierten Tor führt uns in den Rennweg.

Würde man zu Neujahr allen Verwandten und Bekannten mit einem handgeschriebenen Brief seine Glückwünsche übermitteln, dann hätte man viel zu tun. Und da Zeit bekanntlich kostbar ist, wird dieser Brauch heute nur mehr wenig gepflegt. Wer aber glaubt, dass SMS, WhatsApp und soziale Netzwerke dafür verantwortlich sind, der irrt. Bereits vor über 200 Jahren verbreiteten sich in Österreich und Bayern die sogenannten Neujahrsentschuldigungskarten, noch etwas umständlicher auch als Neujahrsgratulationsbefreiungskarten bezeichnet. Was ein wenig klingt wie ein Scherz, besaß einen ernsten Hintergrund. Der Bürgermeister lud die Menschen ein, diese Karten gegen eine Gebühr, eventuell ergänzt durch eine Spende, zu erwerben. Dafür kaufte man sich von der gesellschaftlichen Verpflichtung frei, allen persönlich zum Jahreswechsel zu gratulieren. Die Liste der Käufer wurde publikumswirksam in der Regionalpresse veröffentlicht; der Erlös kam den Armen der Gemeinde zugute. Und da mit der Gestaltung der Karten lokale Künstler beauftragt wurden, waren auch sie Nutznießer der menschlichen Bequemlichkeit. Allein in der Sammlung des Ferdinandeums in Innsbruck befinden sich Karten aus über 50 Tiroler Orten. Auch das Palais Mamming in Meran besitzt eine. Sie zeigt auf der Vorderseite das Ultner Tor und stammt aus dem Jahr 1904. Zu jenem Zeitpunkt existierte dieses vierte Meraner Stadttor allerdings schon länger nicht mehr.

Errichtet worden war die Stadtmauer mit den Toren zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert, immer wieder mit umfangreichen Instandsetzungsarbeiten wegen der verheerenden Überschwemmungen durch den Kummersee. Ursprünglich gab es das Bozner, das Passeirer, das Vinschger und eben das Ultner Tor, das das höchste von ihnen gewesen sein soll. Die letzten beiden begrenzten den Rennweg; das Vinschger Tor, zeitweise als Gefängnis genutzt, neben der Kapuziner Kirche, das Ultner Tor an der Südseite der Stadt in etwa dort, wo sich heute der Theaterplatz befindet. 1508 wurde der Schießstand, der bis dahin jenseits des Vinschger Tors lag, außerhalb des Ultner Tors – am Grieß – verlegt. Im Ultner Turm, so wurde das Tor meist genannt, wurden Schwerverbrecher eingesperrt, lange noch hatte man dort Marterwerkzeuge aufbewahrt. Die Richtstätte zur Vollstreckung der Todesurteile, der Köpflplatz, befand sich unmittelbar davor. Im Gästebuch des Henker-Stübchens im Bozner Turm wurde 1931 ein Gedicht mit dem Titel „Im Henkers-Blut-Rausch“ notiert, in dem das Ultner Tor in dieser Funktion erwähnt wird. Auch die Lagerung von Schießpulver war einmal vorgesehen, man hatte sich dann aber doch entschieden, dafür einen Ort außerhalb der Stadtmauern zu suchen. Im Mai 1851 schließlich wurde der Turm mit Wimpeln und Fahnen geziert, „in festliches Gewand gekleidet, stand er würdig und stolz da“, wie berichtet wurde. Anlass war ein Freischießen, zu dem Erzherzog Johann lud, der vom Turm aus eine Ansprache an das jubelnde Volk und seine Schützen hielt. Die alte Fahne der Schützenkompanie Schenna erinnert noch heute daran.

Seit Eröffnung der Trambahnlinie Meran-Forst mehrten sich die Stimmen, das Vinschger Tor sei ein Hindernis und deshalb zu entfernen. Erst ein Projekt des Architekten Gustav Birkenstädt – in Auftrag gegeben vom Meraner Heimatschutzverein – sicherte das Bestehen und fügte die Fußgängerpassagen links und rechts vom Tor hinzu. Weniger gut erging es jedoch dem Ultner Tor. Im Zuge städtebaulicher Umgestaltungen wurde es nach 1881 abgetragen. Reste der Grundmauern sind noch in einer Bäckerei zu besichtigen. Der neu angelegten Habsburger Straße, heute Freiheitsstraße, als Verbindung zwischen Bahnhof und Stadtzentrum und gesäumt von Hotels und Villen sollte das Tor nicht die Sicht versperren. „Er opferte sein Dasein dem sprunghaften Aufschwung Merans zum Weltkurorte“, wie es Fritz von Pernwerth formulierte.
Christian Zelger