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Einbruch in Mühlbach Nr. 73

Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, Adressen zu benennen. Heute bestehen sie bei uns fast immer aus einem Straßennamen und einer Hausnummer. Nicht unüblich war es früher, einfach nur eine Nummer oder diese zusammen mit dem Namen der Fraktion anzugeben.

Kurz nach Südtirols Annexion am 10. Oktober 1920 ereignete sich in Algund ein Delikt, über das die Presse mehrfach berichtete. Zunächst war es ein einzelner Satz in der Morgenblatt-Ausgabe von „Alpenland“, der auf die Straftat hinwies: „Dieser Tage wurde in die Gemeindekanzlei von Algund eingebrochen und aus der Handkasse ein größerer Geldbetrag entwendet.“ Die Zeitung „Volksrecht“ weiß schon einiges mehr. In der Nacht auf Mittwoch, 22. Oktober war in die Algunder Gemeindekanzlei eingebrochen worden – damals noch im „Spritzenhaus“, Mühlbach Nr. 73 untergebracht, heute Ecke Alte Landstraße/Thalguterstraße. Dabei hatte der Tischlergeselle Valentin S. aus Verona die Handkasse gestohlen, wurde aber bereits am Morgen danach am Meraner Bahnhof verhaftet. Dieser gestand, das Metallbehältnis aufgebrochen und es danach in einen Bach geworfen zu haben. Die Beute bestand aus über 13.000 ungestempelten Kronen – heute etwa 1600 Euro – und 600 Lire. Ob der Dieb, wie andere Zeitungen meldeten, die Kasse nun in die Etsch, in den Mühlbach oder doch nirgendwohin geworfen hatte, und ob er noch in der Nacht in einer Schlosserei in Meran aufgetaucht war und einen Schmied gegen Beteiligung dazu bringen wollte, die Kasse zu öffnen, sei dahingestellt. Interessant an den geschilderten Details ist zweierlei: Erstens wird ein Umstand deutlich, der für die Südtiroler nach dem Ersten Weltkrieg zum Alltag gehörte. Bis 1918 war Tirol Teil Österreich-Ungarns. Lange Zeit war der Gulden – übrigens in Form von Silbermünzen – gültiges Zahlungsmittel, ab 1892 war es die in Gold geprägte Krone. Mit der Besetzung durch die Italiener kam, zunächst parallel, die Lira nach Südtirol. Zweitens ist von ungestempelten Banknoten die Rede. Der Zerfall der Monarchie im November 1918 hatte zur Bildung neuer Staaten geführt. Eine Währungsgemeinschaft zwischen diesen war zunächst im Gespräch, kam aber nicht zustande. Deshalb stempelten die Staaten die kursierenden Geldscheine, um sie von anderen abzugrenzen, da ein sofortiger Umtausch gegen eine neue Währung organisatorisch nicht durchführbar war. Im Unterschied zu Jugoslawien und der Tschechoslowakei, die damit begonnen hatten, übernahm Italien diese Praxis nicht. Zum Zeitpunkt des Diebstahles war die Umstellung Südtirols auf die italienische Lira bereits abgeschlossen. Der Wechselkurs lag bei 100 Kronen = 60 Lire. In einem Rundschreiben von 1919 hieß es: „Es wird aufmerksam gemacht, dass lt. Verfügung des ital. Kommandos die von den neugebildeten Staaten der ehemaligen österr. ungar. Monarchie abgestempelten Geldnoten im besetzten Gebiet keine Giltigkeit haben.“

Was immer man auch mit den ungestempelten Geldscheinen anfangen konnte, S. verscherbelte sie umgehend, und wie es scheint, zu einem geringen Preis. Auch hier unterscheidet sich die Berichterstattung in den Details, so als sollte sich der Leser seine eigene Wahrheit aussuchen können. Mit Hilfe einer „Frauensperson aus Marling“, wahlweise als „Straßendirne“ bezeichnet, habe S. die Kronen in einem Meraner Gasthaus um 450 oder 460 Lire an einen Nikolaus W., ebenfalls aus Marling stammend, veräußert.

S., der noch eine goldene Damenuhr mit Kette und 100 Lire aus einem Algunder Geschäft geraubt hatte, war von einem Carabiniere aus Gratsch verhaftet und nach Meran überführt worden. Am 11. November 1920 tauch­te er ein weiteres Mal in den Medien auf: „In der Nacht zum Dienstag sind wieder vier Häftlinge […] aus zwei Zellen der hiesigen Gerichtsarreste ausgebrochen. Der Gefängniswärter, der durch ein ungewohntes Geräusch herbeigelockt wurde, kam gerade noch zurecht, als sie durch ein Souterrainfenster entfliehen wollten und konnte die Flucht vereiteln und sie wieder in Gewahrsam nehmen. Unter den Ausbrechern befand sich auch der Kassenräuber von Algund.“
Christian Zelger