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Eine Straße als Lebensberaterin

In der letzten Ausgabe der BAZ haben wir erfahren, dass Hans Vintler die Mäßigung als Haupttugend sieht. Eine Form der Mäßigung ist der sprichwörtliche goldene Mittelweg. Ganz ungolden und mitten in Meran finden wir ihn ebenfalls, den Mittelweg. Eine Straßengeschichte der anderen Art.

Ob Ameisenstraße, Bremsweg oder Einhornallee … es gibt auf Straßenschildern nichts, was es nicht gibt. Auch meine Wege durch die Straßen des Burggrafenamts bringen mich immer wieder zum Staunen. Nun ist selbst Meran als größter Ort im Bezirk nicht so weitläufig, dass er unendlich großen Vorrat an Überraschungen besäße. Ausgerechnet zwischen Katharina und Maria, genauer, zwischen der St.-Katharina- und der Maria-Trost-Straße, haut es mich fast vom Fahrradsessel. Ein Schild zu einem Weg, der mir noch nie aufgefallen ist. Eine schmale Verbindung, deren Name so naheliegend und damit fast schon langweilig ist, aber gleichzeitig auch wie die Antwort auf eine Grundfrage des Menschen klingt. Es ist – ganz schlicht – der Mittelweg.

Der britische Historiker Eric Hobsbawm hat in seinem wohl bekanntesten Werk das 20. Jahrhundert als Zeitalter der Extreme bezeichnet. Die ungeheure Beschleunigung unseres Lebens, die globale Vernetzung aller Regionen und Bereiche, nicht zu vergessen jene totalitären Ideologien, die zwei Weltkriege mit mehr Toten, als heute Menschen in Österreich und Italien zusammen leben, entfesselt hatten, prägten das vergangene Jahrhundert. Und wie sehr wir Extremes oft mit Negativem verbinden, zeigt, dass der Klimawandel zu immer häufigeren und kostspieligeren Wetterextremen führt und politisch extreme Gruppierungen als Feinde der Demokratie vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Der Mittelweg ist das unscheinbare, aber effiziente Gegenprogramm dazu.

Dabei wird gerade die Mitte, die Ausgewogenheit mitunter als fauler Kompromiss oder Mittelmäßigkeit verschrien. Nicht Fisch und nicht Fleisch, heißt es. Aber schon in der griechischen Antike hat der Philosoph und Naturforscher Aristoteles (384-322 v. Chr.) in seiner Ethik die Mitte empfohlen. Er hatte darüber nachgedacht, wie ein glückliches und wertvolles Leben möglich sei. Durch den Willen könnten wir unsere Ziele und die Mittel zu ihrer Erreichung bestimmen. Daher liege es in unserer Macht, zwischen Tugend und Schlechtigkeit zu wählen. Der Schlüssel zu einem tugendhaften Leben liege, so seine Erkenntnis, in der goldenen Mitte. Es sei geradezu ein Merkmal der Untugend, dass sie ein Übermaß im Zuviel oder Zuwenig aufweist und sich so in Extremen zeigt. Die Tugenden des Charakters – die ethischen Tugenden, wie er sie nennt – sind uns aber nicht von Natur aus gegeben. Sie werden erst durch die Gewöhnung an das richtige Verhalten entwickelt. Es sind Eigenschaften, die wir dadurch erwerben, dass wir sie durch stetes Handeln als Gewohnheiten ausbilden. Es ist wie das Beherrschen eines Musikinstruments: Zum Trompeter wird man durch das ständige Üben.

Unsere Charaktertugenden können sich aber nur dann optimal entwickeln, wenn wir in allen unseren Tätigkeiten das rechte Maß finden. Extreme in die eine wie in die andere Richtung sind schädlich. Als Beispiel nennt Aristoteles die Großzügigkeit im Umgang mit dem Geld. Weder Geiz noch Verschwendung führe zum Glück. Wer nicht fünf Euro für einen Freund übrig hat oder wer das Geld gleich kübelweise zum Fenster hinauswirft, der wird kaum ein gelungenes, d.h. langfristig erfülltes Leben führen. Seine Gedanken passen hervorragend auch in unsere Zeit. So schätzen wir die Toleranz gerade deshalb, weil sie weder Intoleranz noch völlige Beliebigkeit darstellt. Auch die Solidarität liegt zwischen erschöpfender Aufopferung und purem Egoismus. Gefragt ist eben der Mittelweg.
Christian Zelger