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Unsere Demokratie

Gleich zwei Volksabstimmungen innerhalb weniger Wochen: Das müsste eigentlich auf eine starke Demokratie hinweisen. Brisant sind die zwei aufhebenden Referenden auf alle Fälle, behandeln sie Grundwerte unserer Demokratie. Politische Mitbestimmung nimmt wieder zu.
von Josef Prantl

Am 29. Mai fand in Südtirol die mehrfach verschobene Abstimmung zum Gesetz zur Direkten Demokratie statt. Eine Volksabstimmung über die Volksabstimmung, das klingt etwas paradox. Am kommenden 12. Juni findet italienweit das Referendum zu einigen Punkten der Justizreform statt. Demokratie heißt wortwörtlich Volksherrschaft. Sie ist eine „Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk“, so die viel zitierten Worte Abraham Lincolns, des 16. US-amerikanischen Präsidenten, im Jahr 1863. Autokratien hingegen sind nicht-demokratische Staaten. Gemeint sind autoritär oder totalitär regierte Staaten. In der Geschichte dominierte lange die Staatsform der Autokratie. Heutzutage ist das anders. Mittlerweile besteht rund die Hälfte aller Staaten aus Demokratien. Allerdings ist Demokratie nicht gleich Demokratie. Nur eine Minderheit ist eine echte Demokratie mit fairen Wahlen und liberalen Grundrechten. Und dann gibt es noch die „Hardliner-Autokratien“ wie Nordkorea, Saudi-Arabien, China, Russland. Die Hälfte der Menschheit lebt in mehr oder minder autoritären Autokratien.

Brigitte Foppa von den Grünen arbeitete zusammen mit Magdalena Amhof und Sepp Noggler von der SVP das Gesetz zur direkten Demokratie aus. Vier Jahre später war die SVP damit nicht mehr ganz einverstanden.

Demokratien sind lernfähig
Über die Demokratie wird mitunter gesagt, sie sei die schlechteste Staatsform – aber besser als alles andere, was bislang ausprobiert wurde, so Churchill am 11. November 1947 im britischen Unterhaus. Als besonderer Vorteil der Demokratien wird ihre Fähigkeit gerühmt, Fehler zu korrigieren. Sie sind lernfähiger als autoritäre oder totalitäre Systeme. Zugute kommen ihnen dabei ihre zahlreichen Frühwarnsysteme in der Politik und der Gesellschaft – unter ihnen Massenmedien, Wahlen, Petitionen, Demonstrationen, Bürgerini­tiativen und Meinungsbekundungen in den sozialen Medien. Zudem wirkt das Recht wie ein Frühwarnsystem für die Politik. In den liberalen Demokratien ist die Rechtsprechung so einflussreich, dass dort der Spielraum für die Politik durch das „Regieren mit Richtern“ viel enger begrenzt ist als andernorts. Um zu den 2 Referenden zurückzukehren: Genau all dieses verteidigen sie. Beim aufhebenden Referendum am 29. Mai ging es ja auch um die Frage nach der Mitbestimmung, um die Möglichkeit des „Volkes“, Landesgesetze hinterfragen zu dürfen. Für schnelle politische Entscheidungen (die in Krisenzeiten vielleicht nötig sein mögen) sind Volksabstimmungen zwar hinderlich, für die Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft aber nur ein Gewinn.

Teilnahme durch den Bürgerrat
Besonders bedeutend erscheint mir der im Landesgesetz vom 3. Dezember 2018, Nr. 22, ‚Direkte Demokratie, Partizipation und politische Bildung‘ vorgesehene Bürgerrat, ein Gremium, das berät und Vorschläge ausarbeitet. Es geht um eine eher kleine Zahl von zufällig ausgewählten Bürgern, die kurze Zeit zu einem aktuellen Problem beraten, Lösungsvorschläge verabschieden und öffentlich vor­stel­len. Die Politik muss diese Vorschläge nicht zwingend übernehmen, aber zumindest in ihren Entscheidungen berücksichtigen. Ein Bürgerrat erlaubt es, einfache Bürger an politischen Entscheidungsprozessen teilhaben zu lassen, in direktem Kontakt mit Politikern, Experten und Verbandsvertretern zu treten. Jeder überzeugte Demokrat müsste daher am 29. Mai mit „Nein“ stimmen, demokratische Errungenschaft abzuschaffen, das geht sehr schnell, sie wiederzuerlangen, braucht hingegen viel Zeit.

Sepp Noggler SVP.

Das aufhebende Staatsreferendum
Am 12. Juni findet das staatsweite Referendum statt. Es geht um die Justizreform, genauer um einige Punkte dazu. Unter anderem können die Bürger entscheiden, ob weiterhin rechtskräftig wegen Korruption verurteilte Personen von politischen Ämtern ausgeschlossen werden. Weiters geht es um die Frage, ob Staatsanwälte wie bisher die Laufbahn wechseln und Richter werden können und umgekehrt. Bei welchen Delikten eine Untersuchungshaft verhängt wird sowie um Kriterien, nach denen die Leistungen von Richtern beurteilt werden können, sind die letzten 2 Themen der 5 Fragen, zu denen wir unsere Stimme abgeben sollen. Wesentlich erscheint mir die erste Frage, über die wir abzustimmen haben: Sie fordert die Aufhebung des Teils des Severino-­Gesetzes, der die Nichtwählbarkeit und den automatischen Verfall für Parlamentarier, Regierungsmitglieder, Regionalräte, Bürgermeister und lokale Verwalter im Falle einer Verurteilung wegen schwerer Verbrechen vorsieht.

Den Rechtsstaat schützen
Rechtsstaatlichkeit ist eines der entscheidenden Merkmale von freiheitlichen und vielfältigen Gesellschaften. Bereits Aristoteles ging der Frage nach, ob es vorteilhafter sei vom besten Mann oder dem besten Gesetz regiert zu werden. Rechtsstaatlichkeit ist auch einer der drei Grundwerte der Europäischen Gemeinschaft. Zusammen mit den anderen beiden – Menschenrechte und Demokratie – schafft Rechtsstaatlichkeit die Voraussetzungen für eine freiheitliche und vielfältige Gesellschaft.
Es sollte uns daher ein großes Anliegen sein, mit Argusaugen darauf zu achten, dass Staat, Land, Gemeinde auf der Grundlage des Gesetzes handeln, und zwar auf transparente, nachvollziehbare und demokratische Weise. Die Gerichtsbarkeit muss klar von der ausführenden und gesetzgebenden Gewalt getrennt sein. Der Zugang zu unabhängigen und unparteiischen Gerichten muss jedermann gewährt sein. Jeglichem Angriff auf eine unabhängige Justiz – mag er noch so begründet sein – ist Abwehr zu leisten.

Demokratie braucht Beteiligung
Demokratien lassen sich nicht exportieren, das haben wir in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder erfahren. Sie können sich nur selbst entwickeln. Demokratien basieren auf Zustimmung und das heißt, sie müssen für die Menschen überzeugend sein, was umso besser gelingt, je mehr für Beteiligung gesorgt wird.

Pluralismus ist das Um und Auf der liberalen Demokratie

Francesco Palermo ist Universitätsprofessor für Vergleichendes Verfassungsrecht an der Universität Verona und Leiter des Instituts für vergleichende Föderalismusforschung von Eurac Research in Bozen. Von 2013 bis 2018 war er Senator in Rom, aktuell ist er unter anderem Vizepräsident des wissenschaftlichen Beirates der EU-Grundrechteagentur. Von 2014 bis 2018 war er auch Mitglied der 12er-Kommission und Präsident der 6er-Kommission, welche die Autonomie Südtirols weiterentwickeln.

Im BAZ-Gespräch mit Francesco Palermo geht es um die zwei Referenden, aber auch um die Frage nach der Demokratie.

Francesco Palermo.

Am 12. Juni findet das staatsweite Referendum zur Justizreform statt. Worum geht es dabei?
Francesco Palermo: In der Tat sind es fünf Fragestellungen. Zum einen geht es um die Reform des Obersten Gerichtsrates. Im Falle eines „Ja“ wären Richter, die in den Obersten Gerichtsrat gewählt werden möchten, nicht mehr da­zu verpflichtet, Unterstützungs­un­terschriften für die Kandidatur zu sammeln, sondern sie müssen sich selbst kandidieren. Die zweite Frage betrifft die Evaluierung der Professionalität der Richter, die aktuell dem Obersten Gerichtsrat vorbehalten ist. In Zukunft sollen aber auch Universitätsprofessoren und Anwälte konsultiert werden dürfen. Drittens geht es um die Trennung der beruflichen Laufbahnen von Richtern und Staatsanwälten. Das heißt, die Rolle, für die man sich zu Beginn der Karriere entschieden hat, soll in der Regel während des ganzen Berufslebens beibehaltet werden. Die vierte Fragestellung bezieht sich auf die Untersuchungshaft, die im Falle eines „Ja“ nur mehr für schwerere Straftaten beibehalten werden würde. Derzeit kann es allein schon wegen des Verdachts auf „Wiederholung derselben Straftat“ zu einem Freiheitsentzug kommen. Nun soll sichergestellt werden, dass nur jene, die wirklich schwerer Straftaten beschuldigt werden, vor dem Prozess in U-Haft müssen. Zuletzt soll über die Abschaffung des „Severino-­Dekrets“ entschieden werden, das im Falle einer Verurteilung von politischen Amtsträgern ihre Unwählbarkeit bzw. den automatischen Ausschluss aus den Ämtern vorsieht. Mit einem „Ja“ beim Referendum würde in Zukunft das Gericht von Fall zu Fall entscheiden, ob bei einer Verurteilung auch der Entzug der Zulassung zum öffentlichen Dienst erfolgen soll oder nicht.

Die Unabhängigkeit der Justiz ist wesentlich für eine Demokratie. Wie sollte man abstimmen, damit der Grundsatz der Gleichbehandlung vor dem Gesetz gestärkt und nicht geschwächt wird?
Primär geht es um die Entflechtung der Gewalten. Im Konkreten werden einige Aspekte der richterlichen Unabhängigkeit neu organisiert. Nehmen wir als Beispiel die Reform des Obersten Gerichtsrates. Die derzeitige verpflichtende Unterschriftensammlung führt notgedrungen zu Verstrickungen: Die Kandidaten brauchen das Placet von politischen Strömungen. Die Trennung der Laufbahnen von Staatsanwälten und Richtern verspricht eine weitere Reduzierung der Interessenskonflikte. Natürlich ist eine strikte Trennung von Exekutive, Legislative und Judikative à la Montesquieu nicht möglich, ein Zusammenspiel zwischen den Ge­walten gibt es von Natur aus. Aber der Teufel steckt im Detail und die Meinungen darüber, was die Unabhängigkeit der Justiz ausmacht, gehen auseinander: Soll die Justiz alles selbst regeln oder braucht es Richtlinien von der Politik? Diese Gratwanderung ist komplex und wahrscheinlich ist selbst das Referendum nicht das richtige Instrument, weil es die Wähler überfordert.

Wird die Rechtsstaatlichkeit in Italien durch die Justizreform gestärkt oder geschwächt?
Ziel der Reform ist die Verstärkung der Rechtsstaatlichkeit. Man darf nicht vergessen, dass die Jus­tizreform eine der Bedingungen für die Finanzierung des staatlichen Wiederaufbauplans PNRR ist. Die Grundidee ist, dass alle Bürger und auch alle Wirtschaftssektoren von einer besser funktionierenden Justiz profitieren. Zwar ist die Reform im Vergleich zu den von der EU geforderten Umgestaltungen etwas verwässert, allerdings ist der Spiel­raum immer begrenzt und im konkreten Fall wurde er ausgenutzt.

Bei der Abstimmung zum abgeänderten Landesgesetz zur Direkten Demokratie am 29. Mai empfahlen die SVP, die Lega und Forza Italia mit „Ja“ zu stimmen, die anderen Parteien im Landtag mit „Nein“. Bedeutet ein „Ja“ demokratiepolitisch aber nicht einen Rückschritt?
Es kommt darauf an, was man unter Demokratie versteht. Ein „Ja“ würde bedeuten, dass es weniger Öffnung gegenüber der direkten Demokratie gäbe und die Möglichkeiten diesbezüglich reduziert würden. Die Reform könnte auch mögliche neue Formen der Entscheidungsfindung bieten. Wenn etwa Gesetze, die ohne Zweidrittelmehrheit beschlossen werden, leichter einem bestätigenden Referendum unterzogen werden, dann könnte bzw. müsste sich wohl der Regierungsstil ändern, denn es würde im Landtag eine breitere Mehrheit als die Regierungsmehrheit allein brauchen. Dies wäre wohl eine der größeren Veränderungen. Ein „Ja“ bei diesem Referendum würde bedeuten, dass die mehrheitsrepräsentative Demokratie gestärkt wird. Wer hingegen mehr direkte Demokratie möchte und in Kauf nimmt, dass es mitunter schwieriger wird, sollte mit „Nein“ abstimmen.

Weltweit erleben wir einen Konflikt zwischen Autokratien und liberalen Demokratien. Besteht die Gefahr, dass wir zu einer B-­Klasse-Demokratie abrutschen? Wie kann die demokratische Welt diese schwere Bewährungsprobe erfolgreich bestehen?
Indem sie sich gut ausrüstet, indem sie die Werte der Komplexität unterstreicht, anstatt nur den Pragmatismus zu loben, denn Pragmatismus allein führt zu Autokratie. Pluralismus hingegen ist das Um und Auf der liberalen Demokratie. Wird beim Pluralismus gespart, ist der Weg zur Autokratie geebnet. Dieser Prozess passiert natürlich nicht von heute auf morgen, er ist schleichend und unbemerkt, und wird er bemerkt, ist es oft zu spät. Diesen Entwicklungen gilt es entgegenzuhalten, indem wir uns als Gesellschaft einbringen.

Autokratien mit hohem Kontroll- und Regierungspotential wie China scheinen recht erfolgreich zu sein. Während der Coronakrise hat sich gezeigt, dass auch unsere demokratischen Systeme dahin abdriften könnten. Sehen Sie das auch so?
Es hängt davon ab, wie man Erfolg bewertet: Während das Maß in China etwa die unmittelbare Effizienz ist, steht anderswo eine andere Effizienz im Vordergrund, nämlich die demokratische. Ich finde, die Garantie der Grundrechte sollte kein Detail sein, sondern ein hohes Gut. Es stimmt, dass gerade zu Beginn der Pandemie bei der Demokratie Abstriche gemacht wurden: Entscheidungen wurden von Regierungen getroffen, Parlamente wurden oft umgangen, der Spielraum für Partizipation und Differenzierung war marginal. Dies mag dem Moment geschuldet sein: die Pandemie hat alle unvorbereitet erwischt. Der Verlauf der Pandemie hat aber auch gezeigt, dass unflexible, von oben angeordnete Maßnahmen fast überall auf Dauer nicht toleriert werden, sondern dass Grund­rechte, Partizipation und auch Dif­ferenzierung unumgänglich sind. Wenngleich die Gangart also anfangs undemokratisch war, hat sich diese fast überall als kurzzeitiges Phänomen erwiesen.

Wird das 21. Jahrhundert ein Jahr­hundert der Demokratie sein, mehr als sein Vorgänger?
Demokratie ist nicht so leicht messbar, und wenn dann erst im Nachhinein. Insgesamt denke ich aber schon, dass wir im Vergleich zu den Generationen vor uns in den Genuss von mehr Demokratie kommen. Ich hoffe, diese Entwicklung hält an.