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New Deal

Seit dem 8. Februar sind wir wieder im Lockdown. Die Landesregierung hat zum wiederholten Male die Corona-Maßnahmen verschärft, vorerst für drei Wochen. Seitdem darf die Gemeindegrenze nur mehr begründet verlassen werden, Handel und Tourismus sind heruntergefahren, die Schulen im Fernunterricht. Existenz­ängste und Zukunftssorgen machen zugleich immer mehr Menschen zu schaffen.

Barbara Illmer führt in Tirol mit ihrem Mann eine kleine, aber sehr feine Pension. Das „Garni Stübele“ ist kein Mehr-Sterne-Palast, die Gastgeberin hat aber viel Herzblut in ihr kleines Schmuckstück gelegt. Barbara Illmer war am 7. Februar unter den vielen Südtirolern, die auf dem Silvius-Magnago-Platz protestiert haben. Sie hat große Sorgen: „Ich kann nicht mehr“, sagte die Gastwirtin in einem Interview. „Was mit uns passiert, mit den Kindern, mit den alten Menschen, was uns alles genommen wird, wie sich die Gesellschaft zusehends spaltet und dass wir uns nicht mehr umarmen können, nicht mehr einem Menschen nahe sein dürfen, das ist eine Tragödie!“

Die Corona-Krise trifft die Ärmeren
Die Pandemie hat die knapp 8 Milliarden Weltbürger in den Ausnahmezustand versetzt, die Staaten in die Rezession gestürzt und einen neuen Schuldenberg von untragbarer Höhe erschaffen. Die Pandemie und der Kollaps der Wirtschaft treffen die Schwächsten der Gesellschaft am härtesten. Die einen verlegen ihren Arbeitsplatz in ihre geräumige Wohnung, die anderen riskieren bei ihrem Job eine Ansteckung oder haben diesen bereits verloren. Die einen verbringen den Lockdown auf ihrer Terrasse oder im Ferienhaus, die anderen drängen sich mit Großfamilien in dunklen Zwei­zimmerwohnungen. Die einen kümmern sich um die täglichen Hausaufgaben ihrer Kinder, die anderen wissen gar nicht, dass ihre Kids seit Wochen keinen Kontakt mehr zur Schule haben. Die einen sind bis ins hohe Alter fit, die anderen gehören wegen ihrer Vorerkrankungen zur Risikogruppe bei Covid-19. Dass die Corona-Krise die Ärmeren härter trifft als Reiche, daran gibt es keine Zweifel. Viele kleine Selbstständige fallen durch die Maschen, weil sie zwar arbeiten dürften, aber keine Kunden haben. Wer erst vor kurzem ein Unternehmen gegründet hat, hat wenig Reserven. Kinder aus bildungsfernen Familien, aus Familien mit Migrationshintergrund bleiben auf der Strecke, weil sie mit dem Fernunterricht nicht zurechtkommen.

Die Schere Arm-Reich geht weiter auf
Wie die größte Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren längerfristig das Verhältnis zwischen Arm und Reich beeinflussen wird, ist noch nicht vorhersehbar. Allerdings gibt es einige Gründe zu erwarten, dass die Schere weiter aufgehen wird, so wie nach der weltweiten Finanzkrise 2008. Damals haben sich die Aktienkurse und Immobilienpreise relativ rasch erholt, während die Arbeitslosigkeit nur langsam zurückging. Die Reallöhne stagnieren seit mehr als einem Jahrzehnt, die Euroschuldenkrise seit 2010 machte den ganzen Mittelmeerraum (darunter vor allem Griechenland) zu einer Krisenregion. Und nachdem die Staaten ihre Banken gerettet hatten, taten sie wenig, um die problematische Macht der Finanzmärkte einzuschränken. Die Rufe nach einer Wende in der Wirtschaftspolitik blieben leider ungehört.

Visionen und Zukunftsmodelle
Ein handfestes Zukunftsmodell, eine Vision, die einen positiven Ausweg aus der Coronakrise weist, die längst nicht mehr nur eine epidemiologische Pandemie ist, würden sich viele Menschen heute wünschen. Was können wir aus der Geschichte lernen? In den USA führte Präsident Franklin D. Roosevelt mit dem New Deal in den 1930er Jahren die ersten Sozialprogramme ein, in Großbritannien schlug der Ökonom William Beveridge die Schaffung eines umfassenden Wohlfahrtsstaats vor, der ab 1945 tatsächlich eingeführt wurde.
In ganz Europa verabschiedeten sich Regierungen nach dem Zweiten Weltkrieg vom Laissez-faire-Kapitalismus und verwirklichten eine soziale Marktwirtschaft mit hohen Steuern, staatlichen Eingriffen und viel sozialer Absicherung.

Der Markt kann nicht alles lösen
Noch kann niemand sagen, wohin die Corona-Krise die Welt lenken wird. Aber es fällt auf, dass es unter den zahlreichen Prognosen auch einige optimistische Stimmen gibt. „Eine bessere Gesellschaft kann aus den Lockdowns erwachsen“, schreibt etwa der indische Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen in der „Financial Times“ und verweist auf den Triumph des Sozialstaats nach dem Zweiten Weltkrieg.
Viel stärker als nach der Finanzkrise 2008 greift der Staat heute in alle Bereiche der Wirtschaft ein, zahlt die Löhne von Millionen und fängt Unternehmen auf. Das hat mit der Natur einer Pandemie zu tun, aber könnte sich auch längerfristig auswirken. „Man wird die Rolle des Staats neu beurteilen“, sagt Martinez. „Die Krise zeigt, dass es Aufgaben gibt, die der Markt nicht lösen kann.“

Die Politik muss sich ändern
Auch wenn es nicht zu einem bedingungslosen Grundeinkommen kommt: Einige Lehren aus der Krise könnten mehr Geld für Gesundheitssysteme, höhere Löhne für Pflege- und Sozialberufe und eine bessere soziale Absicherung sein.
Das setzt voraus, dass die Staaten nicht wieder auf einen harten Sparkurs umschwenken, wie sie es in den vergangenen Jahrzehnten gemacht haben.

 

Zeit für neue Prioritäten
Der Meraner Tony Tschenett ist seit 2009 der Vorsitzende des Autonomen Südtiroler Gewerkschaftsbundes mit 30.000 Mitgliedern. Auch er ist überzeugt, dass wir aus der Krise gestärkt aussteigen können.

Die politische Grundausrichtung muss eine andere werden. „Die Ökonomisierung von immer mehr Bereichen der Gesellschaft, vom Krankenhauswesen über die Bildung bis zur Umwelt, war ein Feh­ler und jetzt zahlen wir die Zeche“, sagt Tschenett.
Konkret fordert er ein Umdenken bei der Verteilung der Mittel in den zukünftigen Landeshaushälten: mehr Mittel für die Gesundheit, Bildung, Soziales, Umwelt. Unser Wirtschaften muss sich ändern. Das derzeitige System setzt der Natur mit einer Vehemenz zu, die zwangsläufig zum Zusammenbruch führt. Die Gesellschaft wird sich also verändern müssen, will sie nicht einfach dazu verdammt sein, immer weitere solcher Katastrophen zu erleben.

Die BAZ sprach mit Tony Tschenett über die Situation der Arbeitnehmer und Gewerkschaften in Zeiten von Corona, über Visionen und Zukunftsszenarien für unser Land nach Corona.
Beschleunigt die Corona-Krise die Probleme in der Arbeitswelt?

Tony Tschenett, ASGB-Vorsitzender

Tony Tschenett: Hohe Lebenshaltungskosten bei relativ niedrigem Lohnniveau sind schon lange Realität in Südtirol. Die Mieten sind hoch, Wohnen kommt einem teuer zu stehen. Die Verteilung der Mittel im Landeshaushalt war in den vergangenen zehn Jahren eindeutig wirtschaftslastig. Ein rigides Sparprogramm, Stellenabbau und Stopp bei Neueinstellungen wurden im Gesundheitswesen, im öffentlichen Bereich, in der Bildung durchgezogen und das rächt sich nun. Man hat es verabsäumt mittel- und langfristig zu denken. Die Wirtschaftslobby hat sich bei der Verteilung der Geldmittel durchgesetzt. So fehlen uns heute Pfleger, Ärzte, Personal im Sozialbereich. Abgänger der Landesfachhochschule für Gesundheitsberufe „Claudiana“ wurden vom Ausland abgeworben, weil sie bei uns nicht Arbeit fanden, weil die Arbeitsplätze nicht attraktiv waren. Im Bildungsbereich werden in den kommenden Jahren viele Bediens­tete in den Ruhestand gehen, es ist dringend notwendig jetzt vorauszuplanen. In puncto Personalentwicklung hat der öffentliche Dienst Aufholbedarf, man sollte aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.

Allerdings heißt es immer, die Sanität verschlinge die meisten Mittel des Landeshaushalts?
Das mag schon stimmen, aber im Vergleich zu anderen europäischen Ländern erhält der Gesundheitsbereich bei uns relativ wenig. Die Mittel hätten längst umgeschichtet werden müssen zugunsten des Sozialbereichs, des Gesundheitswesens und der Bildung, die seit langem auf der Stelle treten.

Wie stehen die Gewerkschaften den Menschen in der Krise zur Seite?
Die Sozialpartnerschaft hat sich in der Coronakrise verbessert. Wir sitzen alle im selben Boot. So viele gemeinsame Aussprachen mit der Wirtschaft und Politik wie bisher hat es noch nie gegeben. Nur gemeinsam können wir etwas bewegen, das ist zum Glück allen klar. Mit dem Unternehmerverband haben wir z. B. erreicht, dass in Zukunft nur jene Betriebe die IRAP-Steuerreduzierung erhalten sollen, die sich an die territorialen Abkommen halten. Es gibt leider auch bei uns Betriebe, die nicht in den Renten- und Gesundheitsfonds einzahlen, das 13. Gehalt nicht ausbezahlen. Für die vorbildlichen Südtiroler Unternehmen ändert sich nichts. All jene, die bereits den „Südtirol-Lohn“ oder mehr zahlen, kommen auch morgen in den Genuss des herabgesetzten IRAP-Satzes, im Gegenzug wird Lohndumping steuerlich nicht mehr belohnt.
Weiters haben wir uns für den Solidaritätsfonds stark gemacht, der aufgestockt wird. Alle, und nicht nur Betriebe mit mehr als fünf Mitarbeitern, sollten in diesen Fonds einzahlen. Wir setzen uns für Arbeitnehmer im Lohnausgleich ein und für jene, die kein Arbeitslosengeld erhalten. Unser Einsatz gilt auch denen, die nicht im Lohnausgleich sind wie die Saisonangestellten im Wintertourismus, für diese fordern wir angemessene Sozialhilfen. Von staatlicher Seite hoffen wir, dass das Arbeitslosengeld für zwei bzw. drei Monate und der Kündigungsstopp bis 30. Juni verlängert werden.

Flexibilisierung, weniger Lohn durch Kurzarbeit, Mehrfachbelastung durch Homeoffice und Fernunterricht: Sind nicht die Arbeitnehmer die großen Verlierer der Coronakrise?
Alle, die momentan die größten Probleme haben, haben keine Lobby. Schon vor der Pandemie wussten wir das. Alles hängt davon ab, wie die Sozialpartner in Zukunft zusammenarbeiten, wie wir vom Sparkurs abrücken und Prioritäten für die sozial Schwachen setzen, die wirklich Hilfe brauchen. Ein gesetzlich festgelegter Mindeststundenlohn ist endlich zu verabschieden. Die Menschen wollen arbeiten und wollen auch eine gerechte Entlohnung dafür.

Kranken- und Altenpfleger, Lehrpersonen, Verkäufer usw. – sie alle fordern bessere Entlohnung. Zurecht?

Helden des Alltags

Absolut. Die Gehälter müssen angehoben werden. Die Löhne sind viel zu niedrig. Man sieht in der Krise ja, welche Berufe systemrelevant sind und wie wenig Wertschätzung wir bisher dafür aufgebracht haben. Das Gehalt einer Verkäuferin, einer Pflegerin, Lehrerin steht in keinem Verhältnis zu dem, was sie für die Gesellschaft erbringen. Es braucht in vielen Berufen mehr Verteilungsgerechtigkeit. Der Landeshaushalt wird in den kommenden Jahren geringer ausfallen, der Kampf um die Verteilung der Mittel wird aber viel härter werden.

Befürchten Sie viele Entlassungen als Folge der Corona-Krise?
Corona wird die Arbeitslosenzahlen vorübergehend spürbar in die Höhe treiben. Wir sind uns bewusst, dass schwierige Zeiten auf die Arbeitnehmer zukommen. Es wird zu Entlassungen kommen, im Handel, bei den Zulieferbetrieben, bei prekären Arbeitsverhältnissen, bei der Jugend und vor allem die Frauen werden davon besonders betroffen sein.
Wir müs­sen darauf vorbereitet sein und rechtzeitig abfedernde Maßnahmen ergreifen. Schon lange fordern wir, dass Jugendliche im öffentlichen Dienst eine Berufslehre machen können. Für Frauen sind Umschulungen und Weiterbildungen jetzt schon zu planen, vor allem für den Sozialbereich, wo sich viele neue Arbeitsmöglichkeiten eröffnen.

Ist das viel gepriesene Homeoffice wirklich eine so gute Sache für die Arbeitnehmer? Was müsste man aus Ihrer Sicht verbessern, damit Homeoffice in Zukunft sowohl für Arbeitgeber als auch für Arbeitnehmer ein gutes Modell ist?
Von zuhause arbeiten, nicht mehr pendeln müssen, die eigene Arbeit flexibler gestalten, das klingt nach mehr Freiheit, Selbstbestimmung und weniger Stress.
Auf der anderen Seite gibt es aber einige Nachteile. Es braucht klare Regeln und Rahmenbedingungen für das Arbeiten in Homeoffice. Für bestimmte Berufsfelder geht das auch in Ordnung. Aber die Menschen brauchen soziale Kontakte.
Viele sind genervt vom Homeoffice und möchten wieder in den Betrieb zurück. Für Frauen ist es auch nicht so einfach, Haushalt, Kinder, vielleicht auch noch die Pflege eines Angehörigen und Homeoffice unter einen Hut zu bringen.

Immerhin scheint langsam Licht am Ende des Tunnels, die ersten Impfungen sind bereits gestartet. Wie sehen Sie das, wird sich die Situation bessern oder sind Sie noch nicht so optimistisch?
Die Südtiroler sind fleißige Menschen und werden es schaffen, die Geschichte beweist das. Unsere Unternehmen haben in den vergangenen Krisen gelernt, dass es sich auszahlt, an ihren gut ausgebildeten Arbeitskräften festzuhalten. Es wird nicht einfach, aber ich bin mir sicher, dass der Großteil unserer Familienbetriebe es schaffen wird.
Wir brauchen das Licht am Ende des Tunnels. Umso länger die Krise dauert, umso disziplinierter müssen wir sein. Und unsere Energie müssen wir uns gut einteilen. Und ich bin optimistisch, dass wir aus der Krise herauskommen. Die Menschen wollen arbeiten!

Was wünschen Sie sich für die Arbeitnehmerschaft im Coronajahr 2021?
Ich wünsche mir, dass die Impfungen zügig organisiert werden und dass die Menschen wieder arbeiten können. Wir brauchen faire Verhandlungen, die Krise darf von Lobbyisten nicht zur ei­­genen Vorteilnahme genutzt wer­den.
Ich wünsche allen, dass sie gesund bleiben und den Mut nicht verlieren, gemeinsam schaffen wir den Weg aus der Krise.

von Josef Prantl