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Durch die Zeiten

Einweihung des Raiffeisengebäudes am 23. Juli 1959. Am Rednerpult der Obmann des Bauernbundes Sepp Leiter. Auf dem Titelbild: Algunds Ehrenbürger und 1. Raika-Obmann Matthias Plattatscher, Taufner um 1940. Fotos: Aus „100 Jahre Algund“, Dorfbuch

Für die meisten Menschen sind sie Banken wie viele andere. Nur wenige wissen, dass Raiffeisenkassen als bäuerliche Selbsthilfeorganisationen gegründet wurden. Sepp Kiem war 30 Jahre lang Obmann der Raiffeisenkasse Algund.

Der Algunder Rechtsanwalt stellt sich Ende November nicht mehr der Wiederwahl. Mit 1711 Mitgliedern, 60 Mitarbeitern und 9239 Kunden, darunter 2463 Italiener, steht die Raiffeisenkasse Algund auf soliden Beinen. Ihre Geschichte beginnt am 18. 2. 1896, als 35 Algunder und 10 Gratscher den „Spar- und Darlehensverein der eigenständigen Gemeinden von Algund und Gratsch“ gründen. Federführend war dabei der ehemalige Algunder Gemeindevorsteher und Landtags­abgeordnete Matthias Plattatscher (Taufner), der heute den meisten Algundern nicht mehr bekannt ist, auch wenn er zu den Ehrenbürgern der Gemeinde zählt.

Ein Rückblick
„Das beste Mittel zur Bekämpfung des Darlehenswuchers, zur Pflege der Sparsamkeit und zur wirtschaftlichen Erziehung der landwirtschaftlichen Bevölkerung ist die Gründung eines Spar- und Darlehenskassen-Vereins“ war am 1. 2. 1900 im „Amtsblatt für den politischen Bezirk Meran“ zu lesen. Auch wenn die Raiffeisenkassen heute Banken wie viele andere sind, so waren sie ursprünglich bäuerliche Genossenschaften für Spar- und Kreditangelegenheiten ihrer Mitglieder. 1901 zählte die Algunder Kasse bereits 71 Mitglieder.
Im ehemaligen „Spritzenhaus“ im heutigen Ortszentrum wurde ein Zimmer angemietet und sonntags von 16 bis 17 Uhr der Parteienverkehr abgewickelt.
Mit Matthias Plattatscher erlebte die Kasse die Wirren des Ersten Weltkrieges, den Untergang der Donaumonarchie und die Zweiteilung Tirols. Größter Darlehensnehmer war damals die Gemeinde selbst, die sich für den Bau des Algunder Bahnhofs (1908) und des neuen Friedhofs (1913) ganz schön verschuldete. Vor allem aber der Kauf von Kriegsanleihen und die Geldentwertung nach dem Anschluss an Italien raubte vielen ihre Spareinlagen.

6 Obmänner in 124 Jahren
Die Porträts der Obmänner von der Gründung der Raika bis heute werden im November im Algunder Raika-Hauptsitz vorgestellt. Die Fotocollagen stammen aus der Hand des Kalterer Fotografen und Künstlers Gregor Khuen Belasi. „In einer Broschüre wird kurz auch deren Wirken skizziert“, erklärt der scheidende Obmann Sepp Kiem.
Johann Kiem, Bachguter und Obsthändler in Algund, wurde noch unter der österreichischen Monarchie zum 2. Obmann gewählt, sein Mandat lief jedoch unter dem Königreich Italien aus. Er erlebte somit die Teilung Tirols und musste sich zunehmend mit dem autoritären Eingreifen der faschistischen Diktatur in das soziale und wirtschaft­liche Gefüge konfrontieren.
Die schwierigste Zeit hatte wohl der Schnalshuber-Bauer, meint der langjährige Raika-Direktor Karl Mayrhofer. Von 1923 bis 1937 leitete Jakob Unterweger 15 Jahre die Geschicke der Kasse in einer sowohl politisch als auch sozial und wirtschaftlich turbulenten und düsteren Zeit: die große Weltwirtschaftskrise der 1920er Jahre, massenhafte Arbeitslosigkeit und soziales Elend prägten dieses Nachkriegsjahrzehnt. In Südtirol zeigte der Faschismus seine Fratze.
Aus der Raiffeisenkasse wurde die „Cassa rurale ed artigianale di Lagundo“. 1939 hatten von den 193 Mitgliedern 174 für Deutschland optiert. Es war Jo­sef Hölzl, der nun für die kommenden drei Jahrzehnte als Obmann die Geschicke der Bank lenkte. Unter seiner Füh­rung musste sie durch die Wirren des Zweiten Weltkrieges. Nach dem Krieg war Hölzl Mitbegründer des „Verbandes der Raiffeisenkassen Südtirols“, welchem er bis zu seinem Tod 1969 auch als Obmann vorstand. Schließlich waren es Franz Ladurner (Obmann von 1968 bis 1990) und Sepp Kiem (seit 1990), die den Aufstieg der Raiffeisenkasse Algund zu einer starken Lokalbank vorantrieben.

 

Eine Raiffeisenkasse ist mehr als ein Bankinstitut
Unter dem Obmann Franz Ladurner, der von 1933 – 1973 die Raika Algund auch leitete sowie unter Direktor Karl Mayrhofer (1973-2000) erfuhr die Raiffeisenkasse ihren größten wirtschaftlichen Aufschwung. Im Jahr 1978 konnte sie sich mit dem Titel der einlagenstärksten Kasse im Land rühmen. Mit modernen Bankdienstleistungen und der Nutzung der aufkommenden Technologien der elektronischen Datenverarbeitung war die Raika Algund bahnbrechend im ganzen Land. Zugleich begann unter Mayrhofer auch der Ausbau des Zweigstellennetzes.

Ein Gespräch mit dem langjährigen Raika-Direktor

Sie leiteten fast 30 Jahre die Raika Algund. Was ist Ihnen in bleibender Erinnerung geblieben?
Karl Mayrhofer: Mit knapp 27 Jahren wurde ich 1973 Direktor der Raiffeisenkasse Algund. Ich habe mit 17 Jahren von der Pike auf das Handwerk noch mit Kopfrechnen, Handbuchhaltung und einfachen Rechenmaschinen gelernt. Die Veränderungen im Bankwesen waren in den folgenden Jahrzehnten bahnbrechend. Wir starteten als kleine Dorfbank und entwickelten uns zu einer der größten Kassen des Landes. Beigetragen hat dazu sicher der große Wirtschaftsaufschwung in diesen Jahren. Meine Generation erlebte fast ausschließlich Wachstum, unterbrochen durch Krisen, die Verschuldungskrise in den 1980er Jahren und die Hochzinspolitik. Ich erinnere mich an Zinssätze über die 20 Prozent.

Die Raika Algund war 1978 sogar die größte Raiffeisenkasse des Landes und galt als Vorreiter und Innovationstreiber. Worauf führen Sie das zurück?
Wir haben uns nicht nur logistisch erweitert, sondern waren immer auch innovativ unterwegs und haben moderne Dienstleistungen angeboten. Dank des eigenen Rechenzentrums hatten wir viele Möglichkeiten. Außerdem ließ man mir freie Hand und ich konnte einige Ideen umsetzen. Die Raiffeisenkasse war für mich nicht nur Geldinstitut, son­dern ein Teil der Dorfgemeinschaft. Unsere Spenden, Wettbewerbe, die Ausstellungen und Veranstaltungen sollten den sozialen Zusammenhalt stärken und Algund kulturell beleben. Ich erinnere mich z. B. an die Ausstellungen der Olympia- und Goldmedaillen von Klaus Dibiasi, die wir ausgestellt haben und damit viele Menschen angesprochen haben, an die Schulschlussfeiern und die Münchenfahrten für die besten Schüler erinnern sich heute noch viele Algunder.

Zwischen den Banken herrschte immer schon großer Konkurrenzdruck. Was machte die Raika Algund besser als die anderen?
Meine Strategie war immer so, dass wir eine starke Raiffeisenkasse Algund werden sollten, die auch auf Meraner Gebiet tätig ist. Wir haben immer vorsichtig und bedacht gearbeitet und sind keine Großrisiken eingegangen. Das Tätigkeitfeld überschaubar zu lassen, war mir sehr wichtig. Innovativ und der Zeit voraus zu sein, war ein weiteres Ziel. Wir waren eine der ersten Kassen im Land, die mit Terminals arbeiteten, die Geldwechselautomaten hatten und die neuesten Technologien einführten. Die Zweigstelle Lackner, die 1991 eröffnet wurde, bot vollautomatischen Service rund um die Uhr, damals ein Novum.

Wie kam es 1972 zur Gründung der Zweigstelle Gratsch auf Meraner Stadtgebiet?
Ich war treibend an der Gründung dieser Zweigstelle beteiligt. Zu erklären ist dies auch damit, dass die Raika Algund auch von Gratschern gegründet worden ist. Die Gratscher waren also immer schon Teil der Kasse und Gratsch war vor der Eingliederung in Meran eine eigene Gemeinde. Dass die Zweigstelle so erfolgreich geworden ist, hat uns damals auch kaum jemand zugetraut.

 

Sponsoring des Kinder-Mal-Wettbewerbes für Bilder im Krankenhaus Meran

Die Eröffnung der Filiale „Roter Adler“ 1996 am Rennweg sorgte für Furore. Wie war das überhaupt möglich?
Im Zentrum von Meran eine Zweigstelle zu eröffnen, war für uns ein großer Schritt. Von Seiten der Meraner erfuhren wir auch ganz schön Gegenwind, der auch medial heftig ausgetragen wurde. Als wir aber die oberen Stockwerke für das Stadtmuseum zur Verfügung stellten, beruhigten sich die Gemüter.

 

Die Raiffeisenkasse verbindet auch ein schwieriges Kapitel politischer Geschichte Algunds?
Das stimmt; Algund war lange Zeit gespalten in die sogenannten „Edelweißer“ und „Enzia­ner“. Aus dieser Spaltung ist nach einem großen Streit zwischen den zwei Gruppierungen in der Raika die

Gründung der Sparkasse hervorgegangen. Dieser Riss ging durch das ganze Dorf und konnte erst mit dem Kirchenbau langsam beigelegt werden.

 

Die Corona-Pandemie fordert unser Bankensystem
30 Jahre lang war Sepp Kiem Obmann der Raiffeisenkasse Algund. Die Ablösung der Lira durch den EURO, die Finanzkrise mit ihren tiefgreifenden Auswirkungen, die zahlreichen geopolitischen Spannungen rund um den Globus und, nicht zuletzt, die verheerenden sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen aufgrund des Ausbruchs der Corona-Pandemie prägen diese Jahrzehnte. Nach 30 Jahren stellt sich der Algunder Rechtsanwalt Ende November nicht mehr der Wiederwahl.

Die BAZ sprach mit dem scheidenden Obmann

Im April 1990 wurden Sie sozusagen als „Quereinsteiger“ zum Obmann der Raiffeisenkasse Algund gewählt. Können Sie uns kurz die „Raika“ der 1990er Jahre skizzieren?
Sepp Kiem: Es ist genauso, wie Sie sagen. Ich wurde als Quereinsteiger gleich zum Obmann gewählt und fand schon damals eine gut organisierte solide Raiffeisenkasse vor. Im Jahr, als ich zum Obmann bestimmt wurde, schrieb die Raiffeisenkasse einen Gewinn von fast 3,5 Milliarden Lire und be­schäftigte 61 Mitarbeiter. Den Ruf ein „Vorreiter“ zu sein, hatte die Raiffeisenkasse bereits seit jeher und so war es auch verständlich, dass wir – und auch ich – auf unser ei­genes Rechenzentrum sehr stolz waren. Zudem mussten wir uns damals mit den Neuerungen des europäischen Bankenmarktes konfrontieren und wollten die erweiterten Möglichkeiten nutzen, die diese Öffnung auch für die Raiffeisenkassen mit sich gebracht hatte.
Nach 30 Jahren haben Sie entschieden, sich nicht mehr der Wahl zu stellen. Was sind die Beweggründe für diese Entscheidung?
Für mich ist es immer wichtig gewesen, Entscheidungen selbst und freiwillig zu treffen und nicht zu Entscheidungen sozusagen gezwungen zu werden. Der Entschluss mich der Wahl nicht mehr zu stellen, hat einen ganz klaren Beweggrund: Ich will rechtzeitig neuen und jüngeren Kräften in der Führung der Raiffeisenkasse Platz machen, um mich mit einem „guten Gewissen“ zurückziehen zu können.

Mit welchem Gefühl verlassen Sie nun die Raiffeisenkasse?
Es ist ohne Zweifel ein gutes Gefühl. Die Raiffeisenkasse Algund ist eine solide und organisatorisch gut aufgestellte Genossenschaftsbank. Sie zeichnet sich zudem durch eine sehr umsichtige Geschäftspolitik aus und ist durch ihre tiefe Verwurzelung offen für die Belange der örtlichen Gemeinschaft. All dies bildet für mich eine gute Voraussetzung dafür, dass sich die Raiffeisenkasse auch im sogenannten digitalen Zeitalter gut entwickeln wird.

Welche waren Ihrer Meinung nach die wichtigsten Etappen Ihres 30-jährigen Wirkens als Obmann?
Wenn ich an die letzten drei Jahrzehnte zurückdenke, dann waren zweifelsohne die baulichen Projekte nicht nur die wichtigsten, sondern auch die herausforderndsten Etappen in meiner Tätigkeit als Obmann. Der Hauptsitz wurde realisiert, im Zentrum von Meran wurde die Zweigstelle „Roter Adler“ errichtet, unser Filialnetz wurde optimiert und in den letzten Jahren im Sinne moderner Kriterien des Bankgeschäftes umgebaut und umgestaltet. Von Bedeutung war auch der Wechsel des Informationssystems.

Wie einschneidend ist die Corona-Pandemie für das Bankwesen und speziell für die Raika Algund?
Ich glaube, dass die Corona-Pandemie nicht nur das Bankwesen, sondern das gesamte Wirtschafts- und Finanzsystem sowie das Sozialsystem weltweit beeinflussen wird. Je länger die Pandemie andauert, desto schwerwiegender werden die Folgen sein.
Die Banken werden zukünftig eine zweifache Herausforderung meistern müssen: einerseits sich mit einer größer werdenden Anzahl von Kunden konfrontieren, die zunehmend in Zahlungsschwierigkeiten geraten, andererseits darauf achten müssen, angemessen das sich langsam erholende Wirtschaftssystem mit Krediten zu versorgen. Unweigerlich wird sich dies auf die zukünftigen Bilanzen der Banken auswirken, auch auf jene unserer Raiffeisenkasse.

Was möchten Sie Ihrem Nachfolger mit auf den Weg geben?
Meinem Nachfolger wünsche ich viel Erfolg und Weitblick, um im Wechselspiel zwischen Innovation und Tradition unsere Genossenschaftsbank gut in die Zukunft zu führen. Insbesondere hoffe ich, dass es ihm gelingen möge, die Herausforderungen, die sich durch die Corona-Pandemie ergeben, zu meistern und durch gute Entscheidungen unsere Mitglieder und Kunden vor größeren wirtschaftlichen Schäden zu bewahren.

von Josef Prantl