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Bilder einer Ausbeutung

Kunst Meran zeigt ab Ende Oktober eine Ausstellung des Künstlers Franz Wanner, welche sich mit einem verdrängten Kapitel deutscher Geschichte auseinandersetzt.
Am 24. Oktober 2025 wurde im Meraner Kunsthaus die Ausstellung Eingestellte Gegenwarten. Bilder einer Ausbeutung eröffnet. Noch bis zum 18. Januar 2026 ist die Einzelausstellung des deutschen Künstlers Franz Wanner zu sehen. Kuratiert von Kristina Kreutz­wald und Martina Oberprantacher, entstand die Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem Lenbachhaus München und dem KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst in Berlin. Sie widmet sich einem lange vernachlässigten und verdrängten Kapitel der deutschen Geschichte: der systematischen Zwangsarbeit im Nationalsozialismus und ihren bis heute spürbaren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Nachwirkungen.
Den Ausgangspunkt für Wanners künstlerische Recherche bildet ein auf den ersten Blick unscheinbares Objekt: eine improvisierte Schutzbrille aus Plexiglas, die im Jahr 2022 im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen entdeckt und von Wanner fotografiert wurde. Wahrscheinlich wurde sie aus Materialresten der Rüstungsproduktion hergestellt – ein Produkt des Mangels und zugleich ein Ausdruck von Selbstschutz unter extremen Bedingungen. Dieses Objekt steht sinnbildlich für den Überlebenswillen einer anonym gebliebenen Person, die trotz Verbot Schutzmaßnahmen ergriff – ein stiller Akt des Widerstands innerhalb eines Systems der totalen Kontrolle und Gewalt.

Gleichzeitig wird die Brille zu einer Metapher für das, was nach 1945 folgte: die systematische Verdrängung dieser Verbrechen aus dem kollektiven Gedächtnis, insbesondere der millionenfachen Ausbeutung durch Zwangsarbeit. Mit Eingestellte Gegenwarten spürt Franz Wanner genau diesen Spuren nach. In seiner künstlerischen Praxis verbindet er dokumentarische Recherche mit fiktiven Narrativen und schafft so komplexe, visuelle Erzählungen, die sich zwischen Fakt und Imagination bewegen.
Die Ausstellung zeigt Fotografien, Videos, Texte und Objekte, die aus historischen Fragmenten neue, mehrdimensionale Perspektiven auf die NS-Zeit und ihre Nachwirkungen entwickeln.
Wanners Ansatz zielt auf eine Sichtbarmachung von historischen Zusammenhängen, die häufig im Schatten öffentlicher Erinnerung stehen. Dabei arbeitet er mit bislang unbeachteten Quellen, Archiv­materialien und Fundstücken, die durch ihre künstlerische Transformation eine neue Lesbarkeit erhalten. In dieser künstlerisch-dokumentarischen Herangehensweise wird deutlich, wie tief das System der Zwangsarbeit in die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen des NS-Staats eingebettet war. Die Ausstellung macht außerdem sichtbar, wie viele dieser Strukturen in transformierter Form in der Nachkriegszeit weiterexistierten und wie groß der Anteil der deutschen Zivilgesellschaft an der Aufrechterhaltung und Profitierung dieser Ausbeutung war – ein Aspekt, der in der öffentlichen Auseinandersetzung lange Zeit kaum thematisiert wurde. Der Ausstellungstitel Eingestellte Gegenwarten verweist auf dieses paradoxe Verhältnis von Geschichte und Gegenwart: auf die eingestellte – also abgebrochene oder selektiv betriebene – Erinnerung ebenso wie auf die fortdauernde Wirkung historischer Gewaltverhältnisse in der heutigen Gesellschaft. Wanner lenkt den Blick nicht nur auf das, was erinnert wird, sondern vor allem auf das, was vergessen oder bewusst übergangen wurde. Seine Arbeit versteht sich als Einladung zur kritischen Auseinandersetzung mit historischen Schuldverhältnissen – nicht moralisch, sondern strukturell gedacht – und als Versuch, die Leerstellen im kollektiven Gedächtnis sichtbar zu machen.
Die Ausstellung richtet sich an ein Publikum, das bereit ist, sich mit unbequemen Wahrheiten auseinanderzusetzen. Sie fragt, inwieweit unsere heutige Gesellschaft von historischen Formen der Ausbeutung geprägt ist – nicht nur in ökonomischer, sondern auch in kultureller und sozialer Hinsicht. Dabei bleibt Wanners Ansatz nie anklagend, sondern analytisch und präzise, offen für Widersprüche und Leerstellen. Seine Werke entwickeln eine eindringliche Sprache, die sich sowohl auf emotionaler als auch auf intellektueller Ebene entfaltet. Mit Eingestellte Gegenwarten. Bilder einer Ausbeutung gelingt Franz Wanner eine Ausstellung, die nicht nur historische Zusammenhänge aufzeigt, sondern auch die Frage stellt, wie Erinnerung heute gestaltet werden kann – jenseits offizieller Gedenkrituale, nah an den Menschen, die im Schatten der Geschichte standen.
Thomas Kobler