Die Goethe-Straße wurde nach dem bedeutenden deutschen Dichter benannt. Diese Verbindung liegt auf der Hand. Um einiges schwieriger ist es hingegen bei Straßen, die nicht einer Person gewidmet sind. Hier ist es oft umständlich, die Ursprünge der Bezeichnung zu eruieren. Ein Beispiel dafür ist die Harmoniestraße in der Passerstadt.
Die Verbindung einzelner, gleichzeitig angeschlagener Töne zu einem wohlklingenden Ganzen, die wohltuende Anordnung der Farben und Gruppen eines Gemäldes – das ist Harmonie. So beschreiben es die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm in ihrem epochalen „Deutschen Wörterbuch“. Der Begriff, der im Mittelhochdeutschen als „armonîe“ noch selten verwendet wurde, sei zu ihrer Zeit fast unentbehrlich geworden. Zunächst noch als technischer Begriff aus den Bereichen Musik und Malerei in Gebrauch, wurde er später auch in einer freieren, übertragenen Bedeutung eingesetzt. Friedrich Schiller, der gleich mehrfach zitiert wird, hätte ihn mit Vorliebe verwendet. So weit, so harmonisch. Wie aber kommt das Wort auf ein Straßenschild?
Meran ist keineswegs der einzige Ort, der urbanen Gleichklang sucht. Mit einer Abzweigung der Romstraße in Burgstall gibt es sogar im Burggrafenamt eine zweite Harmoniestraße. Die Bezeichnung ist im gesamten deutschen Sprachraum verbreitet und als „via Armonia“ auch in Italien. Erwähnenswert ist Mönchengladbach in Nordrhein-Westfalen, wo sich Harmonie- und Marktstraße kreuzen. Auch in Untermais treffen Harmoniestraße und Markthallengasse an einem Punkt zusammen. Es dürfte sich wohl um einen Zufall handeln. Ausgewogenheit in der Wirtschaft? Hier scheint der Wunsch der Vater des Gedankens zu sein. Daher sollen weitere Erklärungsansätze bemüht werden. Im 19. Jahrhundert wurden zahlreiche Harmonie-Gesellschaften gegründet, bürgerliche Vereine, die Geselligkeit, Musik, Tanz oder Theater gefördert hatten. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert hingegen tauchen immer wieder Straßenbenennungen mit abstrakten Begriffen wie „Freiheit“ oder „Frieden“ auf. Harmonie als Ausdruck von Ausgeglichenheit würde gut dazu passen. Schließlich inspirierten auch Hotels, Gasthäuser oder andere hervorstechende Gebäude zu Widmungen.
Ab Oktober 1897 wurden in der „Meraner Zeitung“ Wohnungen und Zimmer in der Untermaiser Villa Harmonie angepriesen. Die Inhaber inserierten nahezu im Wochentakt und das über Jahre hinweg, wahlweise eine unmöblierte Jahreswohnung mit fünf Zimmern, Küche, Speise und Zubehör oder zwei schöne Südzimmer mit Balkon und ein elegant eingerichtetes Ostzimmer in ruhiger, staubfreier Lage. Die Ansprüche an die Mieter wurden deutlich formuliert. Letztgenanntes sei „an stabilen Herrn billig zu vermieten“, was immer wir uns heute darunter vorstellen können. Die erwähnte Villa befand sich im Mühlbachsteig, hinter dem sich nichts anderes als die heutige Harmoniestraße versteckt. Unter diesem Namen taucht der Weg erstmals im Oktober 1899 auf, als die Villa des Kupferschmieds Köcher einen Telefonanschluss erhält, was damals noch eine Zeitungsmeldung wert war. Dass die Straße ihren Namen von der Villa erhalten hat, ist durchaus denkbar. In den Zeitungsannoncen werden neben dem Steig auch andere Lokalisierungen verwendet, wie „nächst Villa Paar“, „neben Reitschule“, „am Sportplatz“ und schließlich „Rathausstraße“, die alte Bezeichnung der heutigen Matteotti-Straße. Daher ist anzunehmen, dass sich die Villa in etwa dort befand, wo die beiden Fahrwege aufeinandertreffen und heute ein mexikanisches Restaurant mit „Harmony“ im Namen zu finden ist.
Die Bewohner der Villa waren sehr unterschiedlich. Eine „Lyzeal-Schülerin aus sehr guter Familie“ wollte einer alten Dame halbtags Gesellschaft leisten, Mademoiselle Lachazette mit „schönem Akzent“ gab Französischunterricht und Mrs. Bannister-Borowska, die neunzehn Jahre lang in Meran Englisch unterrichtet hatte, bot Konversation beim Spazierengehen an. Klingt alles sehr harmonisch.
Christian Zelger