Die Vergessenen
28. März 2024
Ich
28. März 2024
Alle anzeigen

Wie der Storch nach Ulten kam

Wenn die Straßen im Ultental auch nicht nach Personen benannt wurden – jedenfalls habe ich keine gefunden –, so erzählen sie nicht weniger Geschichten als ihre „Weggenossen“ anderenorts. Zum Beispiel davon, wie neue Bräuche entstehen.
Ein Brauch, von althochdeutsch „bruh“ für „Nutzen“, bezeichnet eine innerhalb einer Gemeinschaft entstandene, regelmäßig wiederkehrende Handlung in einer festen Form. So steht es im Lexikon. Er ist ein Ausdruck von Tradition und stärkt den Zusammenhalt einer sozialen Gruppe. Im Gegensatz zum Ritual oder Kult ist er aber weniger auf ein höheres Ziel oder auf ein höheres Wesen ausgerichtet, auch wenn sich viele Bräuche aus kultischen Handlungen entwickelt haben. Der österreichische Volkskundler Friedrich Haider (1921-2009) hat in seinem Werk „Tiroler Brauch im Jahreslauf“, das erstmals 1968 erschienen ist, eine fast unüberschaubare Anzahl von Bräuchen im Tiroler Raum gesammelt und beschrieben. Bei einer Fahrt durch das Ultental fallen immer wieder hölzerne Störche auf, die an Straßenrändern oder auf Hausdächern befestigt sind. Und in allen Fällen drängt sich der Verdacht auf, dass dies mit der Geburt eines Kindes zu tun hat. Der Glaube, dass der Storch den Nachwuchs bringt, war ursprünglich vor allem in den nord- und ostdeutschen Ländern verbreitet. In Südtirol war diese Sage unbekannt. Erst mit dem Bau der Brenner-Eisenbahn 1867 taucht sie auch bei uns auf. Wo der Storch nistet, kehre das Glück ein, und unter dem Nest des Vogels könnten weder Blitz noch Feuer Schaden anrichten – so jedenfalls der Volksglaube. Sucht man nun in Haiders Buch, das zuletzt 1990 aufgelegt wurde, nach dem Ultner Brauch, so wird man nicht fündig. Er muss demnach später entstanden sein.

Wie alles begann
Die Spur der Störche führt zum St. Walburger Extrembergsteiger Klaus Gruber. Als er vor vielen Jahren bei seiner Tante in Gais im Pustertal einen solchen Storch auf einem Geländer gesehen hatte, entstand die Idee, dies auch im Ultental einzuführen: Wenn ein Kind geboren wird, sollen die Freunde der Eltern – möglichst heimlich – einen Storch auf das Dach des Hauses setzen. Im August 1997 kam ein Mädchen namens Valentina zur Welt, für das Gruber und sein Bergrettungskollege Günther Garber den allerersten Storch aufstellten. Da nicht feststand, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, konnte der Storch erst im letzten Moment rosa angemalt werden. Beim Transport mit einem Fiat 500 war die Farbe auf dem Holz noch nicht getrocknet, weshalb ihn Garber noch während der Fahrt aus dem Fenster hielt. Zunächst nur im Freundeskreis Grubers verbreitet, entwickelte sich das Störcheaufstellen zu einem Brauch, der im ganzen Ultental als Freundschaftsbeweis gepflegt wird. Zu Beginn gab es einen blauen und einen rosa Vogel, die bei Bedarf verliehen wurden. Auf ihnen stand: „Der Storch muss so lang bleiben stehen, bis das Kind ihn zwei Wochen lang hat gesehen.“ Später wurden sie weiß angemalt und mit bunten Maschen oder Luftballons geschmückt, um das Geschlecht des Kindes zu kennzeichnen. Andere Accessoires weisen auf den Beruf oder die Hobbys der Eltern hin. Als Gruber 2004 selbst Vater wurde, drohte er wohl scherzhaft mit dem Ende des Brauchs, wenn seine Freunde diesem nicht nachkommen sollten. Doch die Sorge war unbegründet. Er bekam sogar einen beleuchteten Storch, der sich nachts automatisch ein- und tagsüber wieder ausschaltete. Der heutige Brauch, die Aufsteller zu einer Marende einzuladen, hat sich erst im Laufe der Zeit entwickelt – mit der Folge, dass manche Holzvögel oft jahrelang auf ihren Abbau warten. Der höchste Storch wurde übrigens bei dem bereits erwähnten Günther Garber aufgestellt: Er saß auf einer 10 m hohen Stange.
Christian Zelger