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Mona Lisas unbekannte „Schwester“

Manche Menschen sind so berühmt, dass es keines besonderen lokalen Anlasses bedarf, um ihnen eine Straße zu widmen. Leonardo da Vinci zum Beispiel gehört mit Sicherheit dazu. Es verwundert deshalb wenig, wenn man in Lana oder auch in Meran auf eine nach ihm benannte Straße stößt.
Dass Johann Wolfgang von Goe­the, geboren 1749, von Leonardo da Vinci porträtiert wurde, ist entweder ein schlechter Scherz oder der Aufmerksamkeit geschuldet, die ein Journalist auf seinen Artikel lenken möchte. Wohl Letzteres trifft auf einen Beitrag der „Gardasee-Post“ aus dem Jahr 1910 zu, der auf zufällige Ähnlichkeiten zwischen einer Goethebüste und einer Zeichnung Leonardos hinweisen möchte.

Leonardo da Vinci wurde 1452, also fast 300 Jahre vor Goethe, als unehelicher Sohn eines Notars und einer Magd in Anchiano bei Vinci in der Toskana geboren. Über seine Schulzeit ist wenig bekannt. Er lernte Lesen, Schreiben und etwas Rechnen, besuchte aber keine Lateinschule. Seine außergewöhnliche Begabung veranlasste seinen Vater, Leonardo in Florenz in die Lehre zu geben. So kam er im Alter von 14 Jahren in die Obhut des berühmten Florentiner Bildhauers und Malers Andrea del Verrocchio. Einige Jahre später wurde er in die dortige Lukasgilde aufgenommen und konnte nun als freier Künstler arbeiten. Dennoch blieb er noch ein Jahrzehnt unter den Fittichen seines Meisters. In dieser Zeit entstand auch das früheste datierte Werk. In der Darstellung des Arnotales wandte sich der Maler von der traditionellen Sicht auf die Landschaft ab und der ihn umgebenden Natur zu. Es blieb nicht bei kleineren Naturstudien. Inzwischen hatte er sich in Mailand niedergelassen. Ludovico Sforza wurde sein Mäzen und Gemälde, Fresken und Musikinstrumente gehörten ebenso zu seinem Schaffen wie Entwürfe für Waffen oder Tonmodelle für Denkmäler. Später sezierte er sogar Menschen und Tiere für seine anatomischen Studien. Immer wieder malte er auch die Mätressen Ludovicos und ließ sich als eine Art Ingenieur überraschende Spezialeffekte für Thea­teraufführungen einfallen. Trotzdem blieb die Malerei seine große Leidenschaft. Für ihn war sie durch die konstruierbare Perspektive eine mathematische Wissenschaft und damit erhabener als Dichtung, Musik und Bildhauerei.

Zu seinen bedeutendsten Werken gehört zweifelsohne „Das Abendmahl“ im Refektorium des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie, an dem er vier Jahre arbeitete und das wegen seiner harmonischen Komposition schnell über die Stadt hinaus bekannt wurde. Weniger harmonisch verlief das politische Leben in Mailand. 1499 marschierten die Franzosen ein und setzten Ludovico ab. Leonardo verlor seine Stellung am Hof, konnte aber neue Gönner gewinnen, bevor er nach Florenz zurückkehrte. Dort arbeitete er als Militärarchitekt für Cesare Borgia, den Sohn des berüchtigten Papstes Alexander VI. und Befehlshaber der päpstlichen Armee. In dieser Zeit entstand sein berühmtestes Werk „La Gioconda“, besser bekannt als „Mona Lisa“. Wer genau auf dem Bild zu sehen ist – und ob es sich überhaupt um eine Frau handelt – ist bis heute Gegenstand oft hitziger Debatten. Einer weit verbreiteten Theorie zufolge zeigt das Bild Lisa, die Ehefrau von Francesco del Giocondo, also die Madonna Lisa, kurz Monna Lisa oder, aufgrund eines Schreibfehlers, Mona Lisa. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in Rom und anschließend in Frankreich im Dienste des Königs Franz I., der ihn großzügig unterstützte. 1519 starb Leonardo und mit ihm einer der berühmtesten Universalgelehrten der Geschichte. „So wie ein gut angewendeter Tag frohen Schlaf bringt, so bringt ein gut verbrachtes Leben heiteren Tod.“, hatte er einmal geschrieben.

Zu den weniger bekannten Werken zählt dagegen die „Monna Vanna“, eine von der Mona Lisa inspirierte Darstellung einer Frau, die in Gesichtszügen, Dreiviertelpose und Körperhaltung mit dem Original nahezu identisch ist – allerdings unbekleidet. Ob die Kohlezeichnung, die um 1515 entstanden sein muss, von Leonardo selbst oder von einem seiner Schüler stammt, lässt sich heute nicht mehr eindeutig feststellen. Diskutiert wird auch, ob ein nicht mehr existierendes Original von Leonardo selbst als Vorlage diente. Damit hat die ohnehin geheimnisvolle Mona Lisa, die er zeitlebens nie an den Auftraggeber abgeliefert hatte, eine noch geheimnisvollere „Schwester“.
Christian Zelger