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Besser sehen und hören

Hören und Sehen werden im Gehirn durch Nervenimpulse verarbeitet und beeinflussen sich gegenseitig. So haben visuelle Reize einen Einfluss auf unser Gehör und umgekehrt. Außerdem sind beide Wahrnehmungsmodalitäten wichtige Faktoren für eine erfolgreiche Kommunikation, da wir sowohl akustische als auch visuelle Signale
interpretieren, um Botschaften und Emotionen zu verstehen.
von Markus Auerbach

Das Blindenzentrum St. Raphael in Bozen ist eine landesweite Anlaufstelle für blinde und sehbehinderte Menschen und deren Angehörige. Wir wollten wissen, wie blinde und sehbehinderte Menschen mit ihrer Beeinträchtigung umgehen und wie sie im Alltag zurechtkommen. Wir haben mit dem Präsidenten Nikolaus Fischnaller gesprochen..

Nikolaus Fischnaller

Herr Präsident Fischnaller, wie lange braucht ein Blinder bzw. sehbehinderter Mensch, um sich in einer fremden Umgebung zurechtzufinden?
Nicht alle Blinden haben dasselbe Vorstellungsvermögen. Blinde bzw. Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung können sich so wie es auch normal sehende Menschen vorkommt nicht gleich gut orientieren. Das räumliche Vorstellungsvermögen entwickelt sich im Laufe der Schulzeit, hauptsächlich zwischen dem 7. und 14. Lebensjahr. Gerade bei jüngeren Kindern reicht das Sehen aber nur soweit, wie die Hände reichen, daher ist eine gezielte Förderung des Vorstellungsvermögens sehr wichtig. Dafür gibt es im Blindenzentrum den landesweiten pädagogischen Hausförderungsdienst. Wenn Sehende uns etwas beschreiben, können wir es mit eigenen Augen sehen, wenn auch Einzelheiten und die Richtung angesprochen werden. Nicht nur die Richtung ist wichtig, sondern auch die Gefühle sind wichtig. Es ist für uns sehr wertvoll, wenn die guten Gefühle mit uns geteilt werden. Auch Geburtsblinde können tiefe Gefühle oder Erlebnisse haben, weil sie diese mit einem guten Urerlebnis verbinden.

Wie finden Blinde Dinge wieder, die Sie verlegt haben?
Das ist eine gute Frage. Vor allem blinde Menschen sind darauf angewiesen, Ordnung zu halten. Alles hat seinen festen Platz und muss dort jederzeit wiedergefunden werden. So bewahren sich die Betroffenen ihre Selbstständigkeit. Alle Gegenstände müssen dorthin zurückgelegt werden, woher sie herkommen.

Was sind die besten Alltagshelfer, auf die blinde Menschen nicht verzichten können?
Hier sind zum Beispiel der weiße Stock und taktile Leitlinien auf dem Boden und in den öffentlichen Gebäuden zu nennen. Für sehbehinderte Menschen sind es Leitlinien, die durch einen starken Kontrast gekennzeichnet sind. Bei den taktilen Leitlinien handelt es sich um taktile (tastbare) Elemente. Mit Hilfe des Pendelstocks ertastet der Sehbehinderte den Weg. Die Elemente können Leitstreifen und Aufmerksamkeitsfelder sein. Leit­strei­fen sind längliche Linien, die führen und orientieren.

Die Wohnung verlassen, um spazieren zu gehen oder einzukaufen – ist das für Blinde bzw. sehbehinderte Menschen eine Überwindung?
Auch blinde Menschen haben unterschiedliche Talente, Schwächen und Stärken. Der eine geht gerne alleine aus dem Haus, der andere geht nur in Begleitung aus dem Haus, weil er sich sonst unsicher fühlt. In diesem Zusammenhang möchte ich die sportliche Betätigung erwähnen, denn vor allem für blinde Menschen ist Bewegung lebenswichtig!
Soll man als unbeteiligter Passant einem Menschen der mit einem Blindenstock unterwegs ist, Hilfe anbieten oder lieber warten, bis er darum bittet?
Ein Blinder kann eigentlich niemanden ansprechen oder um etwas bitten, weil ihm der Blickkontakt fehlt und deshalb gehen viele Passanten an ihm vorbei, weil sie sich nicht angesprochen fühlen. Das ist ein Problem. Hilfe anzubieten, wenn man das Gefühl hat, dass jemand unsicher ist, ist immer eine positive Erfahrung für den Betroffenen.

Was sind die größten Probleme, mit denen blinde Menschen zu kämpfen haben? Stichworte: Barrierefreiheit und Elektromobilität.
Mit der eigenen Blindheit zu leben, kann man lernen. Der blinde Mensch ist für alles dankbar! Ich würde die Barrierefreiheit nicht als das größte Problem bezeichnen. Bei den Computerprogrammen ist es so, dass nicht alles lesbar ist (PDF-Dateien, Fotos). Auch Elektroautos können eine direkte Gefahr darstellen, weil man sie nicht hört.

Eine letzte Frage: Die Möglichkeiten für blinde Menschen, auch ohne Sehvermögen am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, sind vielfältig. Ist es eine Hauptaufgabe des Blindenzentrums St. Raphael, dies deutlich zu machen?
Das Blindenzentrum St. Raphael versteht sich als Kompetenzzentrum, das blinde und sehbehinderte Menschen in ihrer Entwicklung individuell fördert. Ich denke da an PC- und iPhone-Kurse, Gehtechniken mit dem Stock sowie lebenspraktische Fertigkeiten für zu Hause.

 

Mit den Ohren sehen?

Optische Illusionen belegen, dass der menschliche Sehsinn visuelle Eindrücke weniger eins zu eins übermittelt, sondern aktiv konstruiert. Dabei nutzt das Gehirn nicht nur die Informationen der Augen, sondern auch die der Ohren. Andererseits haben Menschen mit einer Hörbehinderung eine ausgeprägte visuelle Wahrnehmung. Zwischen Hören und Sehen besteht also ein enger Zusammenhang. Die Hauptaufgabe des Ohrs besteht darin, Geräusche, Stimmen und Töne wahrzunehmen und über Nervensignale an das Gehirn weiterzuleiten. Außerdem ist das Ohr für die Kontrolle unseres Gleichgewichtes verantwortlich. Gehörlose und schwerhörige Menschen sind Teil der Gesellschaft und können gut in die Arbeitswelt integriert werden, haben aber Schwierigkeiten in der zwischenmenschlichen Kommunikation über die Lautsprache. Akustische Barrieren, Vorurteile und mangelnde Information der hörenden Mitmenschen erschweren ihnen den gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Arbeit. Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit gehörlose und schwerhörige Menschen eine selbstbestimmte berufliche Karriere verfolgen können? Wir haben mit Frau Karin Waldboth vom Elternverband hörgeschädigter Kinder gesprochen.

Karin Waldboth

Ein funktionierendes Gehör ist wichtig, denn es warnt uns vor herannahenden Gefahren und gibt uns dadurch Sicherheit. Außerdem sorgt ein gutes Sprachverstehen für Sicherheit im Umgang mit anderen Menschen. Wie gut sollte man hören?
Neben der Warn- und Alarmfunktion und des Sprachverständnisses brauchen wir unser Gehör auch um Informationen aufzunehmen, uns in unserer Umgebung besser orientieren zu können und vor allem, um mit anderen Menschen zu kommunizieren. Nicht zuletzt trägt ein gesundes Gehör dazu bei, unser Gehirn zu stimulieren und zu aktivieren. Ein unbehandelter Hörverlust erhöht auch das Risiko an Demenz zu erkranken.

Was sind die Ursachen einer Hörschädigung und welche Formen gibt es?
Grundsätzlich unterscheidet man zwischen pränatalen, perinatalen und postnatalen Ursachen, also Hörschäden, die vor der Geburt, während der Geburt oder nach der Geburt entstanden sind. Ein weiteres Unterscheidungskriterium ist der Ort der Hörschädigung.

Wie können Hörende zu einer optimalen Kommunikation mit Gehörlosen beitragen?
Es gibt Kommunikationsregeln, die jeder von uns befolgen kann, um mit einer hörbehinderten Person kommunizieren zu können. Hier ist vor allem das Antlitzgerichtetsein beim Sprechen zu nennen. Hörgeschädigte Menschen sind trotz der Versorgung mit Hörhilfen (Hörgeräten oder Implantaten) immer auch auf das Mundbild angewiesen. Auch die Verwendung der Hochsprache führt zu weniger Missverständnissen. Außerdem sollten Störgeräusche, z.B. ein Radio im Hintergrund, vermieden werden.

Was können Unternehmen tun, um gehörlose Menschen zu integrieren?
Aus jahrzehntelanger Erfahrung wissen wir, dass hörbehinderte Menschen zuverlässige, verantwortungsbewusste und fleißige Mitarbeiter sind. Es geht nur darum, den richtigen Arbeitsplatz zu finden, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen und die Arbeitsanweisungen klar und deutlich zu kommunizieren. Bei unserer Mediation am Arbeitsplatz haben wir die Erfahrung gemacht, dass es am Anfang mehr Zeit und Geduld braucht, bis die Arbeitsaufträge verstanden werden, aber dass dann aber die Arbeit zuverlässig ausgeführt wird. Viele Hörgeschädigte arbeiten jahrelang im selben Betrieb, das ist ein Zeichen dafür, dass man mit ihnen zufrieden ist.

Was würde den Zugang zu Bildung für Gehörlose erleichtern?
Bildung beginnt mit der Geburt. Neben einer guten Hörgeräteversorgung und logopädischen Betreuung ist die Sprachförderung in der Familie und dann in den Bildungseinrichtungen vom Kindergarten bis hin zu den verschiedenen Schulstufen entscheidend für den weiteren Lebensweg des hörgeschädigten Kindes. Sprachförderung bedeutet aber auch ausreichend qualifiziertes Personal in den Schulen, ausreichend Integrationsstunden, gezielte Fortbildung nicht nur der Integrationslehrkräfte, sondern der gesamten Lehrerschaft, optimale akustische Rahmenbedingungen und Kontinuität in der Betreuung. Mangelnde Bildung hörgeschädigter Kinderführt zu eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit, verminderter kognitiver Entwicklung und zu erschwerter sozialer Integration. Dies wiederum erschwert den Einstieg ins Berufsleben und birgt die Gefahr sozialer Abhängigkeit und psychischer Probleme.

Wieso beschäftigen sich Menschen mit Hörverlust erst so spät mit der Thematik?
Das trügerische an der Altersschwerhörigkeit (Presbyakusis) ist, dass sie schleichend kommt, jahrelang unbemerkt ist und mit keinerlei körperlichen Beschwerden einhergeht. Die seelischen und sozialen Folgen sind jedoch gravierend. Die Teilnahme an Gesprächen, das Telefonieren, das Fernsehen, die Teilnahme am Straßenverkehr usw. wird immer schwerer. Die Betroffenen ziehen sich immer mehr aus dem sozialen Leben zurück, die Lebensqualität leidet. Schwerhörigkeit ist immer noch ein Tabu-Thema, obwohl sie – früh erkannt – gut behandelbar ist. Die frühzeitige Versorgung mit technischen Hörsystemen steigert die Lebensqualität und hilft dabei, weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können.

Bezüglich Trends und Entwicklungen. Wie sehen Sie die Zukunft der Hörgeräte?
Die Entwicklungen in der Medizin und in der Hörtechnik sind schon seit vielen Jahren hoch, vor allem die Zusatztechnik bietet ein großes Spektrum an Hilfsmitteln für hörgeschädigte Menschen im Alltag an (FM-Anlagen, visuelle Hilfsmittel für den Alltag, Zusatzgeräte für Handys usw.). Aber auch die beste Technik kann das Gehör nicht wieder vollständig wiederherstellen. Es bleibt eine Hörbehinderung, die nicht banalisiert werden darf. Hörgeschädigte sprechen heute viel besser, deshalb wird die Hörschädigung oft vergessen und dies führt zu Missverständnissen, was zu weniger Akzeptanz in der hörenden Gesellschaft führt.