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Ein Tag, ein Lied, eine Straße

Was haben der 12. Jänner, 8. Februar, 18. März, 30. April, 24. Mai, 17. Juni, 22. Juli, 2. August, 20. September, 30. Oktober, 4. November und 5. Dezember gemeinsam? Nach diesen Tagen wurden Plätze und Wege benannt. Gerade in Italien wird auffallend vielen historischen Ereignissen eine Straße gewidmet. Den 24. Mai beispielweise finden wir in Rom ebenso wie in Verona oder – um im Burggrafenamt zu bleiben – in Sinich.

Der italienische Schriftsteller Umberto Eco hat einmal geschrieben, der einfachste Weg, um jemanden zu öffentlicher Vergessenheit zu verurteilen, ist, eine Straße nach ihm zu benennen. Ebenso steht es wohl mit den historischen Ereignissen. Wie viele Menschen fahren an der 30.-April-Straße in Meran vorbei, ohne zu wissen, was am 30. April passiert ist? Aus eben diesem Grund druckte die BAZ vor gut zweieinhalb Jahren die erste „Straßengeschichte“ über diese Straße. Doch zurück zum 24. Mai. Was war so Wichtiges geschehen, dass man das Datum heute auf Straßentafeln entdecken kann? Das berühmte italienische Marschlied „La legenda del Piave“ gibt einen Hinweis. Es beginnt mit den beiden Zeilen „Il Piave mormorava calmo e placido al passaggio / Dei primi fanti il 24 maggio“ – der Fluss Piave rauschte ruhig und gelassen, als am 24. Mai die ersten Infanteristen vorbeizogen.
Getextet hatte das Lied der Neapolitaner Giovanni Ermete Gaeta 1918. Thema der ersten Strophe ist der Marsch der Armee in der Nacht auf den 24. Mai 1915 zum Fluss Piave, Schauplatz mehrere Schlach­ten gegen Österreich-Ungarn. Damit gehörte Italien, das sich ein Dreivierteljahr zuvor noch neutral erklärt hatte, zu den kriegsführenden Staaten. Das Deutsche Reich hatte Österreich zuvor unter Druck gesetzt, Italien das Trentino abzutreten, um zumindest dessen Neutralität aufrechtzuerhalten. Dass Italien an der Seite seiner Dreibund-Partner kämpfen wird, daran glaubte ohnehin kaum noch jemand. Auch als dieser Bund Anfang Mai schon gekündigt war, unterbreitete man Italien immer umfangreichere Angebote. Es half nichts. Rom hatte sich bereits im Londoner Geheimvertrag vom 26. April für einen Kriegseintritt auf Seiten der Entente entschieden. Zu behaupten, dass die Mehrheit der Italiener diesen Krieg wollte, würde aber nicht der Wahrheit entsprechen. Doch die Kriegstreiber waren weit aktiver und konnten mit dem Irredentisten Cesare Battisti, dem Schriftsteller Gabriele D’Annunzio und dem Futuristen Filippo Tommaso Marinetti eine Reihe illustrer Namen hinter sich vereinen. So kam es, dass sich Premierminister Antonio Salandra und Außenminister Sidney Sonnino mit Zustimmung von König Vittorio Emanuele III. dem öffentlichen Druck beugten. Noch am 24. Mai berichtete der Corriere della Sera von der Kriegserklärung. Was auf Seiten Österreichs und Deutschlands befürchtet wurde, war nun Wirklichkeit geworden. Der österreichische Kaiser Franz Joseph I. reagierte mit seinem berühmten Manifest „An Meine Völker“, das mit dem Satz beginnt: „Der König von Italien hat Mir den Krieg erklärt.“Auch im Zweiten Weltkrieg spielte das erwähnte Lied eine Rolle. Als sich Italien nach dem Sturz Benito Mussolinis am 8. September 1943 von seinem Bündnispartner Deutschland löste und auf Seiten der Alliierten in den Krieg eintrat, ersetzte die „Legenda del Piave“ die „Marcia Reale“ als Nationalhymne. Einerseits wollte man sich vom Königshaus distanzieren, das wesentlich zum Aufstieg Mussolinis beigetragen hatte, andererseits erinnerte das Lied an italienische Siege im vorhergehenden Weltkrieg, der für Italien am erwähnten 24. Mai begann. Die Straße zu diesem Datum finden wir in Sinich, dem faschistisch geprägten Viertel im Süden Merans, das Mitte der 1920er Jahre für die italienischen Arbeiter des Chemieunternehmens Montecatini angelegt worden war. Ob es heute noch zeitgemäß ist, Straßen nach Kriegsbeginnen zu benennen, ist eine andere Geschichte.
Christian Zelger