Landeshauptmann verurteilt Einschüchterungsversuche
20. Januar 2022
Frisch, fromm, fröhlich… freigelassen
20. Januar 2022
Alle anzeigen

Gemeinsam lernen

Die Schulen seien für die Demokratie von grundlegender Bedeutung und müssten gesichert und geschützt werden, sagte  Ministerpräsident Mario Draghi kürzlich. Fakt ist: Für die Entwicklung sozialer Kompetenzen und Fähigkeiten ist sie unersetzlich. Es hat eine Pandemie gebraucht, um sich dem Wert der Schule bewusst zu werden.
von Josef Prantl

Die Kehrseite der Medaille ist, dass die Schulen Aufgaben zu stemmen haben, die weit über ihre Möglichkeiten hinausgehen. Die Pandemie hat wie in vielen anderen Bereichen die Schwachstellen unseres sozialen Systems entlarvt: Im Gesundheitswesen, in der Altenpflege und auch im Schulwesen fehlt es an längst nötigen Ressourcen. Ein wunder Punkt ist die Integration von Schülern mit besonderen Bedürfnissen, vor allem von Jugendlichen mit geringen Sprachkenntnissen.
Italien ist zurecht stolz auf sein inklusives Modell. Alle Kinder und Jugendlichen haben auf dem Papier das Recht auf eine inklusive Bildung. Will heißen: Alle Kinder und Jugendlichen mit und ohne Beeinträchtigung bzw. besonderen Bedürfnissen gehen in den gleichen Kindergarten, in die gleiche Schule, alle lernen zusammen, denn jeder kann vom anderen lernen. So können Kinder und Jugendliche mit Behinderungen bzw. Beeinträchtigungen überall dabei sein und überall mitmachen. Sie werden von Lehrkräften bzw. Mitarbeitern für die Integration unterstützt. Was in der Theorie schön klingt, ist in der Praxis aber kaum – wenn überhaupt – umsetzbar.

Immer mehr Schüler mit geringen Sprachkenntnissen und Beeinträchtigung
Landesweit erhalten rund 12.000 Kindergartenkinder bzw. Schüler (13 % aller Eingeschriebenen) aufgrund einer Funktionsdiagnose oder eines klinischen Befunds Integrationsunterricht bzw. Inklusionsmaßnahmen. Pädagogische Mitarbeiter, Lehrkräfte für Integration und Fachlehrpersonen unterrichten und bewerten dann nach einem individuellen Bildungsplan, zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Kinder bzw. Schüler. Dazu kommen rund 11.000 ausländische Schülerinnen und Schüler; das entspricht in etwa 12 Prozent der Gesamtzahl. An den deutschsprachigen Mitteschulen sind zum Beispiel an die 1000 ausländische Schülerinnen und Schüler eingeschrieben. Ihre Zahl hat sich in den vergangenen 10 Jahren fast verdoppelt. Da die ausländische Bevölkerung vorzugsweise in den Städten lebt, ist der Ausländeranteil an den Schulen dort deutlich höher. Dieses Stadt-Land-Gefälle werde bei der Zuteilung der Ressourcen aber nicht berücksichtigt, lautet die Kritik der Schulen in den Ballungszentren.

„Es wird immer schwieriger, allen gerecht zu werden“

Inklusion: Das große Ziel, die große Hoffnung, am Ende die große Desillusionierung? Oder doch nicht?

Deutschlehrerin Notburga Leiter

Direktor Piero Di Benedetto

Der Schulsprengel (SSP) Meran Stadt ist gemessen an den Schülerzahlen der größte Schulsprengel des Landes mit 1000 Schüler­innen und Schülern. Zudem besteht der SSP (ausgenommen die Grundschule in Burgstall) aus Schulen im städtischen Umfeld. Mehrsprachigkeit und Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten sind an der Tagesordnung. Schüler aus benachteiligten sozialen Umfeldern besuchen die Schulen ebenso wie Schüler aus gutsituierten sozialen Umfeldern. Diese Heterogenität stellt die Schulgemeinschaft täglich vor große Herausforderungen. „Wenn eine Herausforderung sich zur Überforderung wandelt, entsteht ein Problem“, sagt Direktor des SSP Meran Stadt, Piero di Benedetto. Notburga Leiter unterrichtet an der Mittelschule „Karl Wolf“ Schüler mit Migrationshintergrund in Deutsch. Dafür braucht es eine gute Ausbildung in Deutsch als Zweitsprache, weiß Leiter aus eigener Erfahrung. Sie fordert daher viel mehr Fachkräfte, die eine DAZ-Ausbildung haben. Man erreicht nur etwas auf einer persönlichen Ebene, was bedeutet, dass Schüler mit keinen bzw. ganz geringen Sprachkenntnissen einen auf sie zugeschnittenen Unterricht brauchen, um im inklusiven Modell nicht auf der Strecke zu bleiben. Das gilt gleichwohl für jene, die größere Beeinträchtigungen haben. Und dafür brauche es ausgebildete Lehrpersonen und passende Räumlichkeiten zum Ausweichen an den Schulen, sagt Leiter. Sonst bleibe Inklusion eine reine Illusion und führe zu Frustration und Überforderung der Lehrkräfte.

Die BAZ sprach mit Frau Leiter und Direktor Piero Di Benedetto
Es ist ein hehres Ideal: Kinder mit und solche ohne Beeinträchtigung bzw. mit Migrationshintergrund und geringen Sprachkenntnissen sollen gemeinsam unterrichtet werden. Doch Lehrer und andere Fachleute sagen: Das hilft keinem der Schüler wirklich. Stimmt das?

Notburga Leiter: Wir sind von der Idee der Inklusion überzeugt und kritisieren nicht die Idee der Inklusion, sondern die Bedingungen in der Praxis. Für die Lehrpersonen stellt es eine Zerreißprobe dar, zwischen individueller Förderung, dem gesellschaftlichen Leistungsverständnis und der schulischen Selektionsfunktion ihrem Auftrag gerecht zu werden. Inklusion bewegt sich zwar immer im Spannungsfeld von Möglichkeit und Unmöglichkeit. Es ist aber eine schöne Vision zu glauben, dass eine optimale Förderung zugunsten der vollen Entfaltung der individuellen Potenzia­le jedes Einzelnen mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen möglich ist. Die Realität ist halt eine andere!

Wie sind die Bedingungen in der Praxis?
Notburga Leiter: In unserem Schulalltag ist es aufgrund der zunehmenden Sprachkomplexität und des soziokulturellen Hintergrunds vieler Schüler immer schwieriger, allen gerecht zu werden.  Eine Lehrperson ist in einer Klasse für durchschnittlich 20 Kinder mit unterschiedlichsten Bedürfnissen verantwortlich. Mindestens die Hälfte, meist mehr, beherrschen die Unterrichtssprache nicht ausreichend, um den, ihrer Altersstufe gerechten, Inhalten folgen zu können. Einige Schüler verfügen über eine psychologische Abklärung, die ihnen eine Rechen- oder Rechtschreibstörung bzw. Hyperaktivität oder eine Einschränkung kognitiver Leistung bescheinigt. Die Räumlichkeiten sind zu klein, Ausweichräume für Klassenteilungen gibt es kaum. In den wenigen Stunden, in denen zwei Lehrpersonen der Klasse zugeteilt sind, müssen die Schüler in Kleingruppen oft im Hausgang unterrichtet werden.

Herr Direktor, wie hat sich die komplexe sprachliche Situation an Ihrer Schule in den letzten Jahren entwickelt?
Piero Di Benedetto: Die erhöhte sprachliche Komplexität ist Normalität in den Klassen der Stadtschulen des SSP Meran Stadt. In den Klassen befindet sich eine sehr interessante Mischung aus Kindern und Jugendlichen verschiedener Kulturkreise und Muttersprachen. Wir haben im Wesentlichen 3 Zielgruppen: Schüler mit Deutsch als Muttersprache, -Schüler mit Italienisch als Muttersprache und Schüler mit einer Drittsprache als Muttersprache. In ihrem Alltag sprechen viele Schüler Italienisch (auch Kinder mit Migrationshintergrund), andere sprechen im Alltag Dialekt. Durch den hohen Migrationsanteil werden im Alltag eine Vielzahl verschiedener anderer Sprachen gesprochen (Urdu, Arabisch, Albanisch, Slawisch usw.). Die Tendenz der vergangenen Jahre, Kinder nicht-deutscher Muttersprache in die deutsche Schule einzuschreiben, hat außerdem zugenommen.

Und wie groß ist der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund?
Piero Di Benedetto: Eine beträchtliche Anzahl unserer Schulklassen weist einen hohen Migrationsanteil auf, durchschnittlich von über 30 %. Die Anzahl der Schüler mit Migrationshintergrund ist um einiges höher, wenn man Schüler mit italienischer Staatsbürgerschaft und Migra­ti­onshintergrund betrachtet: Der Umstand, dass diese Schüler die italienische Staatsbürgerschaft aufweisen, bedeutet nicht zwangsläufig, dass auch die sprachlichen Kompetenzen in den beiden Landessprachen zur Genüge bestehen. Oftmals sind diese Kinder bis vor kurzem im Ausland zur Schule gegangen, obwohl die Eltern seit vielen Jahren in Italien leben und die Staatsbürgerschaft besitzen. Dieses Phänomen haben wir vor allem bei nordafrikanischen Familien. Für die Schule bedeutet dies, dass zwar keine zusätzlichen Ressourcen zugewiesen werden, diese Schüler jedoch einen besonderen sprachlichen und allgemeinen Förderbedarf haben. Wir haben zudem Schüler mit Migrationshintergrund, die ohne oder geringe Alphabetisierung in unser Bildungssystem eingestiegen sind und wo eine intensive differenzierte Betreuung über die ganze Woche erforderlich ist.

Wer übernimmt an der Schule diese Zusatzaufgaben?
Notburga Leiter: Diese Betreuung wird von den Klassenlehrpersonen und den DAZ-Lehrpersonen (DAZ=Deutsch als Zweitsprache) übernommen. Viele Kinder, die bei uns den Kindergarten besucht haben, sind zwar seit mehr als drei Jahren im Bildungssystem, beherrschen die deutsche Sprache aber nicht in ausreichendem Maße. Eine weitere bekannte Herausforderung ist die Integration und Beschulung von Quereinsteigern aus dem Ausland, welche während des Schuljahres in un­ser Bildungssystem kommen. Diese Betreuung ist sehr ressourcenintensiv, kaum planbar und führt zwangsläufig zu einer Umschichtung der Ressourcen.

Alle Menschen sollen die gleichen Chancen haben

Hat die Zahl von Schülern mit italienischer Muttersprache auch zugenommen?
Piero Di Benedetto: Vor eine besondere Herausforderung stehen insbesondere unsere Grundschulen, wenn Kinder aus einem rein italienischsprachigen Kontext (italienische Eltern, aber auch ausländische Eltern, die je­doch nur Italienisch sprechen) in die deutschsprachige Schule eingeschrieben werden. Aufgrund schwer nachvollziehbarer Ursachen ist in den vergangenen Jahren die Anzahl der Kin­der, wel­che die deutsche Spra­che nicht oder nur bedingt beherrschen, an­gestiegen. Diese Kinder benötigen genau dieselbe sprachliche Betreuung wie Kinder mit Migrationshintergrund. Hierfür sind jedoch keine besonderen Ressourcen vorgesehen. Aus diesem Grund führe ich als Schulführungskraft mit jeder dieser italienischsprachigen Familie welche ihre Kinder in die 1. Klasse der Grundschulen einschreiben wollen, ein Beratungsgespräch, bei welchem ich auf die verschiedenen Problematiken hinweise. Nichts destotrotz bestehen die meisten Eltern darauf, ihre Kinder in die deutsche Schule einzuschreiben. Auch im kommenden Schuljahr werden in den 1. Klassen der Grundschulen ca. 15 % der Kinder aus einem rein italienischsprachigen Kontext kommen. Eine interessante Tendenz lässt sich auch in den 1. Klassen der Mittelschulen beobachten. Jedes Jahr werden Schüler, welche die italienischen Grundschulen besucht haben, in die deutsche Mittelschule eingeschrieben.

Führt das nicht zu einer Überforderung der Lehrpersonen?
Notburga Leiter: Jeden Schüler seinen Möglichkeiten und Begabungen entsprechend individuell optimal zu fördern und gleichzeitig alle Schüler an einem allgemein verbindlichen Leistungsmaßstab zu fördern, ist unmöglich. Für verhaltensauffällige Schüler mit familiären bzw. sozia­len Problemen sind wir im ständigen Austausch mit den Sozialdiensten, Psychologen und oft dem Jugendgericht. Inklusive Bildung braucht Rahmenbedingungen, die benötigten räumlichen, sächlichen und personellen Ressourcen müssen zur Verfügung stehen. Sonst bleibt sie ein reiner Papiertiger und frustriert Lehrpersonen und Schulleitungen. Die hohe Sprachkomplexität unseres Sprengels stellt vor allem die Sprachenlehrpersonen vor große Herausforderungen. Ein klassischer Deutschunterricht ist in allen Bildungsstufen mit dieser Klassenzusammensetzung nicht zielführend und führt zur Benachteiligung der Schüler aller Zielgruppen. Als Beispiel hebe ich den Sprachbedarf von Schülern deutscher Muttersprache hervor. Wenn kein differenzierter Sprachunterricht angeboten werden kann, entwickelt sich deren Sprachniveau in der deutschen Sprache im Verhältnis zu gleichaltrigen Schülern anderer Schulen mit geringerer Sprachkomplexität zwangsläufig schlechter. In den Grundschulen wird aus diesem Grund im Deutschunterricht vermehrt im Team unterrichtet.

Schüler mit Migrationshintergrund stellen die Schulen vor große Herausforderungen

Was bemängeln Sie vor allem?
Piero Di Benedetto: Oftmals entsteht der Eindruck, dass die komplexe Situation an den Brennpunktschulen von den zuständigen Stellen auf Ebene des Landes und der Gemeinde unterschätzt wird.
Die Schule erfüllt einen wichtigen sozialen Auftrag bei der Vorbereitung der Bürger auf das öffentliche Leben. Dabei ist es wichtig, dass Mittel bereitgestellt werden, um schwierigen Situationen so zu begegnen, dass nicht in Zukunft erhöhte Probleme und Kosten für das System entstehen. Allen Kindern und Jugendlichen einen guten und vor allem differenzierten Bildungsweg zu garantieren, ist eine Investition in die Zukunft. Wenn die allgemeinen Kriterien für die Ressourcenvergabe an die Schulen jedoch keine Differenzierung zwischen komplexen/heterogenen und homogenen Umfeldsituationen vorsehen, dann werden die Schüler von Brennpunktschulen zwangsläufig in ihrem Bildungsweg benachteiligt. Unsere Schulen im Schulsprengel Meran Stadt, haben zur Wahrung der Bildungsgerechtigkeit didaktische und organisatorische Konzepte zum Umgang mit sprachlicher, kultureller und sozialer Komplexität erarbeitet. Für die Umsetzung benötigen wir jedoch auch die notwendigen personellen Ressourcen und eine angemessene Anzahl von Räumlichkeiten in unseren Schulhäusern. Beides haben wir aktuell nicht.

Wie lauten Ihre Forderungen?  

Inklusion bedeutet, dass niemand ausgegrenzt wird

Notburga Leiter: Um einer Überforderung vorzubeugen, ist es unbedingt notwendig, der Heterogenität durch besser angepasste didaktische Maßnahmen im Unterricht, aber insbesondere durch Arbeit in Kopräsenz, effektiv zu begegnen. Die Erfolge in den Grundschulen durch den Team­unterricht bestätigen dies. In der Mittelschule muss in Zukunft mehr auf diese Instrumente zurückgegriffen werden, um den Bedürfnissen der Kinder gerecht werden zu können. Hierfür benötigen wir auch in der Mittelschule die dementsprechenden Ressourcen. Wir brauchen mehr Lehrpersonen für Deutsch als Zweitsprache, mehr Fach­lehrer in Ko-Präsenz, Inte­grat­ions­lehr­per­sonen, die ihr Fach verstehen.
Es müs­sen So­zi­al­pä­da­gogen eingestellt werden und Räumlichkeiten wie Aus­weich­räume, Besprechungszimmer… geschaffen werden.
Piero Di Benedetto: Die Arbeitsbedingungen sind mit jenen anderer Sprengel, insbesondere im ländlichen Raum, nicht zu vergleichen. So lange es für „Brennpunkt-Sprengel“ keine spezifische Ressourcenzuwendung gibt, ist es schwierig den vielseitigen Herausforderungen professionell zu begegnen. Im Sinne der Bildungsgerechtigkeit ist es notwendig unterschiedliche Rahmenbedingungen auch unterschiedlich zu behandeln.

 

„Inklusion muss gut durchdacht sein und braucht gut ausgebildete Integrations- und DAZ-Lehrpersonen“

Patrizia Vigl ist Koordinatorin für Integration an der Wirtschaftsfachoberschule „Heinrich Kunter“ in Bozen. Sie hat die Spezialisierung für Inklusion an der Bildungswissenschaft in Brixen absolviert und blickt auf fast zwei Jahrzehnte Integrationsunterricht zurück.

Integrationskoordinatorin Patrizia Vigl

Was unterscheidet eine Lehrperson für Integration von einer Fachlehrperson?
Patrizia Vigl: Die Integrationslehrperson hat eine Beratungs- und Unterstützungsfunktion. Sie berät die Fachlehrperson durch didaktisch-pädagogische Hinweise, um die festgelegten Ausgleichs- und Befreiungsmaßnahmen für die Integrationsschüler einzuhalten. Sie unterstützt nicht nur die Integrationsschüler, sondern alle Schüler einer Klasse. Sie sollte eigentlich in den Hauptfächern inhaltlich fit sein bzw. die Inhalte so beherrschen, dass sie die Schüler unterstützen kann. An der Oberschule ist das natürlich eine große Herausforderung. Die Integrationslehrperson ist auch ein Bindeglied zwischen Integrationsschülern, Fachlehrpersonen und Eltern. Sie gibt keine Bewertungen, muss aber Inhalte vorbereiten, differenzieren und didaktisch unterstützen, sei es in der Klasse als auch individuell außerhalb der Klasse oder in Videokonferenzen. Sie muss sich sowohl den Integrationsschülern anpassen als auch den Fachlehrpersonen, denn die Zusammenarbeit, der gegenseitige Respekt und die Verantwortung, die sie gemeinsam den Schülern mit besonderen Bedürfnissen gegenüber haben, ist sehr wichtig. Eine Integrationslehrperson muss auch sehr viel Empathie, Resilienz und Organisationstalent haben, da sie mit verschiedensten Persönlichkeiten, Stresssituationen und organisatorischen Herausforderungen klarkommen muss. Das alles macht diesen Beruf besonders herausfordernd und verlangt besondere Kompetenzen sowohl in fachlicher als auch pädagogischer Hinsicht.

Sie arbeiten seit 18 Jahren als „Integrationslehrerin“. Was hat sich seitdem verändert?
Das ist eine gute Frage. Es hat sich sehr viel verändert. Am Anfang unterstützte ich höchstens 5 Schüler und meistens nur in einer Klasse. Mittlerweile kann es sein, dass man bis zu 15 und mehr Schüler mit verschiedensten Diagnosen unterstützt und das sogar in mehr als 5 Klassen. Dass darunter das Niveau der Unterstützung nicht mehr so effizient sein kann, wie es sein sollte, ist augenscheinlich. Es ist unmöglich auf alle Bedürfnisse, Schwächen und Anliegen der Schüler einzugehen, da einfach zu wenig Stunden zur Verfügung stehen. Außerdem kommt noch dazu, dass immer mehr Schüler mit einer Diagnose an der Schule sind und im laufenden Schuljahr neue dazukommen. Eine weitere Problematik ist, dass es nicht genügend ausgebildete Integrationslehrpersonen gibt und sehr oft Lehrpersonen für Integration eingesetzt werden, die zu wenig Kenntnisse und Erfahrungen in diesem Bereich haben. Ein weiterer Aspekt sind die Schüler mit Migrationshintergrund. Es kommen immer mehr Schüler an unsere Schule, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Auch diese werden von den Integrationslehrpersonen unterstützt und fordern uns noch mehr heraus. Sie werden zwar auch von spezialisierten Sprachlehrpersonen unterstützt, diese haben jedoch nur sehr begrenzte zeitliche Ressourcen. Eine ausreichende Unterstützung ist bei weitem nicht gewährleistet. Die Integrationslehrperson erkennt auch sehr oft Verhaltensauffälligkeiten der „normalen“ Schüler und ist dann deren Ansprechpartner.

Die Schulen in Ballungszentren haben zusehends mit heterogenen Klassen zu tun. Wie kann es gelingen, Schüler mit geringen Sprachkenntnissen, mit Beeinträchtigungen und unterschiedlichsten Bedürfnissen zu fördern, ohne dass der Rest der Klasse auf der Strecke bleibt?
Das ist eine sehr große Herausforderung. Es bräuchte mehr Ressourcen in diesem Bereich, d. h. spezialisierte Lehrpersonen, die diese Schüler unterstützen und im Team zusammen mit den Fachlehrpersonen arbeiten. Dazu bräuchte es mehr Stunden, die zur Verfügung stehen und die Bereitschaft der Bildungsdirektion, auch auf diese Problematik einzugehen, indem sie spezifische Ausbildungslehrgänge organisiert. Es wäre z. B. sinnvoll für diese Schüler individuell zugeschnittene Unterrichtseinheiten einzubauen und diese dann im Teamunterricht zu unterrichten. All das verlangt Geduld, Kompetenz und ausreichend Ressourcen.

Lehrpersonen fühlen sich überfordert und sind frustriert, weil es unmöglich ist, gelingenden inklusiven Unterricht zu gestalten. Wäre es nicht sinnvoller, Sonder- bzw. Förderklassen an den Schulen einzuführen?
Italien hat das Modell des inklusiven Unterrichts gewählt und ist auch Vorreiter diesbezüglich. Das bedeutet, dass es gesetzlich (Gesetz Nr. 517 von 1977) festgelegt ist. Alle Schüler, egal mit oder ohne Beeinträchtigung, haben das Recht auf ein inklusives Unterrichtsmodell. Ich finde diese Art des Unterrichts rein ethisch und didaktisch-pädagogisch gesehen gut, nur muss es gut durchdacht und organisatorisch auch machbar sein. Es braucht dazu ausgebildete und motivierte Lehrpersonen, die bereit und geeignet dafür sind. Ich bin grundsätzlich aber auch nicht gegen Sonder- bzw. Förderklassen, aber nur als Zusatz zu den „regulären“ Klassen. Ich würde das Stundenkontingent diversifizieren, d. h. einen Teil der Unterrichtszeit verbringen die Schüler mit Beeinträchtigung bzw. Sprachdefiziten in Förderkursen, wo sie zielgerecht unterstützt werden durch eine Differenzierung des Unterrichts, den Rest der Unterrichtszeit verbringen sie in der regulären Klasse. Das Modell der Sonderschulen, wie es in Deutschland z. B. vorgesehen ist, sehe ich als Stigmatisierung und verlorene Chance zur „Normalität“. Wenn Schüler mit Beeinträchtigung zusammen mit den „normalen“ Schülern in der Klasse unterrichtet werden, fühlen sie sich nicht als „anders“ bzw. werden nicht stigmatisiert. Sie können durch die Anwendung der Ausgleichs- und Befreiungsmaßnahmen und Differenzierung dem regulären Unterricht folgen und schaffen einen „normalen“ Abschluss.