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Wie die literarische Moderne nach Tirol kam

Ezra-Pound-Straße auf dem Weg zur Brunnenburg

Aichweg, Lingweg und Mühlangerweg, ja, man ist in Tirol. Ge­nauer: in Dorf Tirol, dem his­torischen Zentrum unseres Landes mit dem namengebenden Schloss.

Die Aufzählung ließe sich selbstverständlich mit weiteren, ebenso schönen Tiroler Straßennamen ergänzen. Doch dann steht man plötzlich vor der Ezra-Pound-Straße. Die Bezeichnung klingt ähnlich ungewöhnlich als würde man in einem kleinen amerikanischen Ort wie Hailey in Idaho zwischen der 4th und 5th Avenue auf einen Kraxenweg stoßen. Nicht sehr wahr­scheinlich. Und doch passt die Ezra-Pound-Straße nur schein­bar nicht zu Tirol.

Das Leben eines Ruhelosen
Benannt wurde der Weg zur Brunnenburg nach dem amerikanischen Dichter Ezra Pound (1885 – 1972). Geboren in Hailey, Idaho, einer 1000-Seelen-Gemeinde im Westen der USA, zog es ihn nach seinem Literatur-Studium nach Europa. Dass er hier bis zu seinem Tod leben würde, zeigte sich erst später. Wobei das „hier“ etwas weit gefasst ist. Wie viele Kreative führte er ein Nomadenleben, wohnte in Venedig, London, Paris, Rapallo. Er arbeitete an Übersetzungen und begann 1915 mit seinen „Cantos“. Pound, der zu den bedeutendsten Lyrikern der literarischen Moderne zählt, verkehrte mit den großen Schriftstellern seiner Zeit, wie James Joyce oder T. S. Eliot, die er in ihrer Arbeit unterstützte. Anfang der 20er Jahre lernte er in Paris die Geigerin Olga Rudge kennen, die seine Lebenspartnerin wird. Er selbst war bereits verheiratet – ein Umstand, an den sich die Nachwelt weit weniger stößt als an seiner Fürsprache für Mussolini und seine Propagandareden im Radio. 1945 wurde er von den Amerikanern als Landesverräter festgenommen, in Pisa in einen Käfig gesperrt und für geisteskrank erklärt. Hier entstand der berühmteste Teil seines Hauptwerkes, die preisgekrönten „Pisaner Cantos“. Als man ihn 1958 endlich freiließ, kam er auf die Brunnenburg zu seiner Tochter Mary und ihrem Mann, dem Ägyptologen Boris de Rachewiltz.

Tirol und das Weltgedicht
Zum 100. Geburtstag 1985 beschloss der Gemeinderat von Dorf Tirol auf Betreiben des Literaturhistorikers und Johanneum-Professors Alfred Gruber, den Seitenast des Schlossweges, der zur Brunnenburg führt, in Ezra-Pound-Straße umzubenennen. Bis zur Realisierung vergingen allerdings Jahrzehnte. Auf der Brunnenburg hatte Pound die letzten Gesänge seines faszinierenden, fast 600-seitigen Opus Magnum verfasst. Die „Cantos“ sind ein hochkomplexes Geflecht aus Anspielungen, Ereignissen, Personen und Verweisen, gedichtet in Englisch, Deutsch, Französisch, Lateinisch, Griechisch, Chinesisch. Dementsprechend schwierig ist die Lektüre, selbst in der kongenialen Übersetzung durch die erst kürzlich verstorbene Eva Hesse. Besonders Mary de Rachewiltz, ebenfalls Schriftstellerin und Übersetzerin, hält das Erbe ihres Vaters lebendig und ist eine nie versiegende Quelle, wenn es darum geht, die eine oder andere Passage dieses Weltgedichts zu deuten oder zu erhellen. Da sich weder Pound noch ihre Mutter Olga Rudge um sie hatten kümmern können, wuchs sie im Pustertal bei einer Bauernfamilie in Gais auf. Ihren leiblichen Vater nannte sie Tatile, wie sie in ihrem autobiographischen Werk „Diskretionen“ schreibt. Ohne Hinweise wie diese wäre eine Cantos-Passage wie „Tatile ist gekommen!“ – eine Anspielung auf seinen Besuch in Gais 1944 – noch kryptischer und würde sich, wie es ein Pound-Experte ausgedrückt hat, jeder Analyse entziehen. Die Herausforderung, zu verstehen, zu akzeptieren, zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben. Wer sich noch fragt, warum es in Dorf Tirol Ezra-Pound-Straße braucht, der findet die Antwort, wie die auf jede Frage, in seinen „Cantos“. Verborgen.

Christian Zelger