

Früher war alles besser! Wer kennt den Spruch nicht. Und doch beschleicht uns das Gefühl, dass wir gerade einen starken Wandel erleben. Eine aktuelle Studie des Instituts für Allgemeinmedizin & Public Health Bozen zeigt nun konkret, wie es jungen Menschen bei uns geht.
von Josef Prantl
„Junge Menschen erleben eine besonders komplexe Lebensrealität“, sagt Verena Barbieri. Ess- und Angststörungen nehmen deutlich zu, die Gesundheitskompetenz ist teilweise gering und digitale Medien prägen den Alltag stärker denn je. Drei zentrale Faktoren wirken besonders belastend auf die psychische Gesundheit junger Menschen: globale Krisen wie Inflation, Klimakrise oder der Ukraine-Krieg; schulischer Druck wie Leistungsanforderungen, Zukunftsängste, ständiger Vergleich und intensive Nutzung digitaler Medien, insbesondere soziale Medien und ständige Erreichbarkeit. So steht es im neuesten Bericht des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health in Bozen. Mehr als 9000 Eltern und über 2500 Jugendliche haben im Frühjahr 2025 an der vierten COP-S-Erhebung („Corona und Psyche in Südtirol“) teilgenommen. Interessant: Die Corona-Pandemie belastet laut Studie nicht mehr so stark wie in früheren Jahren, doch andere, vor allem globale Themen treten umso stärker in den Vordergrund. Bei Jugendlichen, die angeben, stark durch den Preisanstieg, den Ukrainekrieg oder den Klimawandel belastet zu sein, zeigen sich deutlich mehr Symptome wie Angst und depressive Verstimmungen.
Was bedeutet COP-S?
COP-S steht für „Corona und Psyche in Südtirol“. Die Studie wurde heuer im Frühjahr zum vierten Mal vom Institut für Allgemeinmedizin & Public Health an der Claudiana durchgeführt mit dem Ziel, Langzeitfolgen der COVID-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Südtirol zu untersuchen und zusätzlich weitere Belastungsfaktoren wie Krieg, Klimakrise oder digitalen Medienkonsum zu erfassen. „Psychosoziale Gesundheit von Südtiroler Kindern und Jugendlichen 2025 im Vergleich 2023, 2022 und 2021“ lautet die Erhebung und wurde kürzlich vorgestellt. „Die Studie markiert eine wichtige Fortsetzung unserer wissenschaftlichen Untersuchungen zur psychosozialen Situation von Kindern und Jugendlichen in Südtirol im Kontext der COVID-19-Pandemie und der nachfolgenden Jahre“, heißt es in der Einleitung.

Junge Menschen unter Dauerdruck
Die Ergebnisse der Südtiroler COP-S-Studie passen zu einem breiteren Bild, das auch andere Studien zeichnen: In der „GUCK-Hin-Studie“ (benannt nach „Generation Ukraine-Krieg, Covid-19, Klimawandel“) zum Beispiel berichten über die Hälfte der Jugendlichen von Angst- oder Depressionssymptomen. Die COPSY-Studie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf zeigt: Rund 21 Prozent der jungen Menschen geben eine dauerhaft geminderte Lebensqualität an. Eine weitere Umfrage von „Swiss Life“ weist darauf hin, dass der Erreichbarkeitszwang durch soziale Medien besonders junge Erwachsene stark stresst. In allgemeinen Umfragen geben 14- bis 29-Jährige deutlich häufiger ein hohes Stresslevel an als ältere Generationen. All diese Studien zeigen, dass die Belastung nicht nur aus einzelnen Faktoren kommt, sondern sich gegenseitig verstärkt: Globale Krisen machen Sorgen, die Medien verstärken das Bewusstsein für diese Krisen und gleichzeitig entsteht Druck, im Alltag „funktionieren“ zu müssen. „Die Langzeitfolgen globaler Krisen müssen ernst genommen werden“, sagt Verena Barbieri, die die COP-S-Erhebungen bei uns leitete.
Belastung durch Schule
In Südtirol zeigt sich, dass die psychische Belastung nicht nur durch extern wahrgenommene Krisen entsteht, sondern auch durch das direkte Umfeld. Schulstress ist für viele Jugendliche ein zentraler Faktor: Leistungsdruck, das Gefühl, die Erwartungen nicht zu erfüllen, und Zukunftsängste dominieren den Alltag. „Kinder, die sich in der Schule stark unter Druck fühlen, weisen deutlich häufiger Hinweise auf seelische Probleme auf als Kinder, die diesen Druck nicht spüren“, erläutert Verena Barbieri. Aber auch die Digitalen Medien spielen eine sehr große Rolle. Die digitale Welt wirkt doppelt: Einerseits bietet sie Verbindung, Austausch und Unterstützung, andererseits verstärkt sie den Druck, permanent präsent zu sein. Jugendliche berichten von der Angst, etwas zu verpassen („FOMO-Fear of Missing Out“), und vom ständigen Vergleich: mit Freunden, Influencern, dem Leben im Netz.
Eltern spielen eine wichtige Rolle: Ihre Wahrnehmung von Krisen (z. B. Inflation) wirkt sich direkt auf das seelische Klima in den Familien aus. Besonders gefährdet sind laut Studie Kinder und Jugendliche von alleinerziehenden Eltern und mit Migrationshintergrund. Mädchen zeigen häufiger Angst- oder Depressionssymptome.
Bei Oberschülern ist ein hoher Anteil, der weniger als 8 Stunden schläft. Übermäßiger Medienkonsum steht im Zusammenhang mit schlechtem Schlaf, psychischem Stress, Selbstbildproblemen.
Gesundheitskompetenz
Das Gesundheitswissen, so belegt es die Studie, vieler Schüler ist schwach ausgeprägt. Viele tun sich schwer, verlässliche Informationen zu Gesundheitsthemen zu erkennen. Daraus ergibt sich ein klarer Bildungs- und Unterstützungsbedarf. Die Studie macht deutlich, dass Jugendliche vor allem verlässliche Ansprechpersonen benötigen. „Prävention sollte in Hinkunft fest in Südtirols Schulalltag verankert sein, nicht als zusätzliche Pflicht, sondern als Teil eines gesunden Lern- und Lebensumfelds, im engen Zusammenspiel mit der allgemeinmedizinischen Versorgung“, betont Univ.-Prof. Dr. Christian Wiedermann, Forschungskoordinator des Instituts.

Familien, Schule und Arbeitswelt sind gefordert
Familie und besonders auch die Schule sind gefordert. Als soziale Lernorte prägt sie das Zusammenleben, das Verhalten und die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen entscheidend. Schule sollte ein Ort der Wertevermittlung sein und mehr denn je junge Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung unterstützen, ihnen Orientierung bieten und ihnen dabei helfen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Für viele Kinder ist die Schule auch ein sicherer Ort, der Schutz, Unterstützung und verlässliche Beziehungen bietet. Die über 100 Einrichtungen der Jugendarbeit in Südtirol mit knapp 400 Mitarbeitern sollten unterstützend zur Seite stehen. Aber auch die Wirtschaft hat große Verantwortung, damit junge Menschen für die Arbeitswelt von morgen gut vorbereitet sind. Die psychische Gesundheit junger Menschen ist kein Randthema mehr, sondern ein zentrales gesellschaftliches Zukunftsthema. Das zeigt die aktuelle Studie deutlich auf. Belastungen haben sich nicht nur vorübergehend erhöht, sondern verfestigen sich in Teilen der Jugend. Um dem vorzubeugen, braucht es ein Zusammenspiel von Politik, Schulen, Gesundheitswesen und Familien.
Das Institut für Allgemeinmedizin und Public Health wurde 2018 in Südtirol gegründet und gehört zur Landesfachhochschule für Gesundheitsberufe Claudiana. Es beschäftigt sich mit Forschung, Lehre und Prävention in der Hausarztmedizin. Außerdem bildet es zukünftige Hausärzte aus und untersucht, wie die Versorgung in Südtirol verbessert werden kann. Das Team besteht aus Ärzten, Biologen, Pflegeexperten und Statistikern. Dr. Verena Barbieri arbeitet seit 2020 im Institut und hilft mit, die Ergebnisse von Studien auszuwerten. Sie hat große Erfahrung in medizinischer Statistik und erklärt Zahlen und Zusammenhänge so, dass sie für die Praxis nützlich sind. Sie leitete auch die vierte COP-S-Studie. Die BAZ sprach mit ihr:

Verena Barbieri.
Frau Dr. Barbieri, die aktuelle COP-S-Studie zeichnet ein Bild von jungen Menschen in Südtirol, die stark unter Druck stehen, die sich oft überfordert und orientierungslos fühlen. Nicht etwas übertrieben?
Verena Barbieri: So würde ich das nicht formulieren. Die COP-S-Studie führt ein Screening durch, das frühzeitig Hinweise auf mentale Schwierigkeiten liefert. Früherkennung ist ein zentrales Thema, wenn es um Gesundheit geht, auch um mentale. Wenn man sieht, dass Druck entsteht, entweder durch schulische oder familiäre Belastung sowie durch finanzielle Schwierigkeiten, kann man frühzeitig präventive Maßnahmen setzen. Die Zahlen des Screenings entsprechen den Zahlen anderer europäischer Länder. Es besteht kein Grund zur Panik, sondern die Möglichkeit aktiv zu werden.
Ihre Studie zeigt auch, dass schulischer Druck ein zentraler Stressfaktor ist. Glauben Sie, dass das Schulsystem derzeit ausreichend auf die psychische Belastung von Jugendlichen reagiert?
Das Schulsystem tut bereits sehr viel. Die Stellen zur psychologischen Betreuung an den Schulen wurden ausgebaut, es gibt vermehrt definierte Ansprechpersonen für Probleme und die Lehrpersonen stehen in permanentem Austausch mit den Eltern. Es ist jedoch eine Tatsache, dass die Schule jener Ort ist, an dem wirklich alle Kinder und Jugendlichen zusammenkommen und viele Stunden verbringen. So sind es häufig die Lehrpersonen, die auf mentale Schwierigkeiten aufmerksam werden, reagieren und mit den Eltern in Kontakt treten. Aus unserer Studie kann man zwei einfache Maßnahmen ableiten. Erstens, Vermittlung von einem gesunden Lebensstil: höchstens zwei Stunden Bildschirmzeit pro Tag, mindestens dreimal pro Woche Sport und ausreichend Schlaf. Dies kann Schülern und Eltern einfach und klar vermittelt werden. Zweitens kann man längerfristig gezielte Fortbildungen für Lehrpersonen anbieten, die sich mit Früherkennung und Prävention von mentalen Problemen bei Kindern und Jugendlichen beschäftigen.
Digitale Medien sind allgegenwärtig, gleichzeitig erhöhen sie Stress und Angst. Sehen Sie hier eher die Verantwortung bei den Jugendlichen selbst, bei den Eltern, oder bei der Gesellschaft/Politik?
Die Vermittlung der Verantwortung liegt sicherlich bei Eltern, Lehrpersonen und Gesellschaft. Jedoch sollte das Ziel sein, den Kindern und Jugendlichen längerfristig einen eigenverantwortlichen Umgang mit diesen neuen Herausforderungen zu vermitteln.
Globale Krisen wie Krieg, Klimawandel oder Inflation scheinen Jugendliche besonders zu belasten. Glauben Sie, dass wir als Gesellschaft genug tun, um junge Menschen auf solche ‚unsichtbaren Katastrophen‘ vorzubereiten ?
Kinder und Jugendliche werden in den Medien täglich mit Schreckensmeldungen zu diesen Themen konfrontiert, die sie ungefiltert aufnehmen. Es ist wichtig, dass Eltern und Lehrpersonen mit ihnen in Kontakt bleiben und über diese Dinge gesprochen wird. Vieles, das im Alltag „unsichtbar“ ist, wird durch die Medien sichtbar, jedoch nicht zuordenbar und bleibt als Schreckgespenst in den Köpfen hängen.
Was hat Sie an den Ergebnissen am meisten überrascht?
Überrascht hat mich vor allem, dass der Preisanstieg die Jugendlichen so stark belastet. So wie diese Belastung von den Eltern oft unterschätzt wird, so hat sie auch mich überrascht. Bedenklich finde ich auch die unterschiedliche Wahrnehmung von psychosomatischen Beschwerden durch Eltern und Jugendliche. Psychosomatische Beschwerden sind häufig Vorboten zu mentalen Problemen. Es ist unglaublich wichtig, mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt zu bleiben und sich regelmäßig auszutauschen.
Welche Verantwortung tragen wir Erwachsene dafür, Kindern und Jugendlichen gesunde Routinen vorzuleben, von Schlaf bis Bewegung, anstatt diese nur zu fordern?
Sicherlich eine große. Dazu haben wir keine Studie gemacht. Aber aus eigener Erfahrung wage ich zu behaupten, dass das gute Beispiel der Eltern ein tragender Faktor für eine gesunde Lebensweise bei Kindern und Jugendlichen ist.
Prävention ist wichtig, sagen Sie. Aber Lehrpersonen und Hausärzte berichten von Überlastung: Wer soll die vielen notwendigen Unterstützungsaufgaben stemmen, wenn die Personaldecke weiter dünn bleibt?
Wenn Prävention rechtzeitig ansetzt, sollte sie die Überlastung eigentlich einschränken. Beispiel: Wenn den Familien klar vermittelt wird, dass man über schulische Schwierigkeiten gar nicht diskutieren muss, solange ab 15 Uhr der Bildschirm läuft, bzw. Kinder nicht ausreichend schlafen, kann man schon einiges erreichen. Weiters ist erwiesen, dass eine bessere Gesundheitskompetenz der Bevölkerung die Anzahl der Arztbesuche verringert und somit zu einer Entlastung der Hausärzte beiträgt. Nun zeigt unsere Studie, dass eine bessere Gesundheitskompetenz der Schüler mit besserer mentaler Gesundheit zusammenhängt. Ein flächendeckendes, ständig besser werdendes Gesundheitsbewusstsein in der Bevölkerung kann somit zu einer Entlastung für Hausärzte und Lehrpersonen beitragen. Hier kann das Institut für Allgemeinmedizin ansetzen und Maßnahmen implementieren, um das Gesundheitsbewusstsein zu verbessern. Dies kann am besten im Austausch mit politischen Verantwortungsträgern und Schulverantwortlichen passieren.